Tschudi in Berlin
Stellen Sie sich für einen Augenblick das großbürgerlich-kaiserliche Berlin um 1900 vor. Den Kurfürstendamm, das Westend, den Boulevard Unter den Linden. Den Rausch von Gründerzeitarchitektur, die hemmungslos Türmchen und Erker, Karyatiden und anderen Klingeling-Zierrat aufeinanderhäuft. Hinter den protzigen Fassaden brütende Großmachtphantasien, bequem ausgepolstert mit opulentem Samt, kriegstrunken bebildert mit Schlachtengemälden. Und plötzlich, wie ein Donnerschlag auf Samtpfoten (o ja!) eine ganz andre Welt, lichtdurchströmt und luftig und gänzlich unheroisch. Und, was am schlimmsten ist: französisch. Die Impressionisten sind da in Berlin, der pickelhaubenbewehrten Hauptstadt des Deutschen Reiches. Nein, nicht einfach nur in Berlin – im wichtigsten, stolzesten Saal der stolzen Nationalgalerie! Das ist das Werk von Hugo von Tschudi, dem – stets überlebensgroß gezeichneten – Titelhelden des vierten Romans von Mariam Kühsel-Hussaini. Über den Galeriedirektor Tschudi – der im Übrigen, das widerspricht seiner Liebe zur neuen französischen Malerei nicht, auch die Alten Meister liebt, auch die deutsche Romantik, auch den großen Adolph Menzel, selbst den intriganten Anton von Werner – über Tschudi, den engen Freund Max Liebermanns, der Berlin liebt und aus ihm vertrieben werden wird, lässt sich Faktisches genug erfahren im Internet.
Bild im Banner: Édouard Manet, La Seine à Argenteuil, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Keine brave Biografie
Kühsel-Hussaini legt es in ihrem Buch auf etwas anderes an als auf eine brave Biographie. Nicht ohne Grund verzeichnet der Klappentext, dass sie die Enkelin eines afghanischen Kalligraphen ist, vertraut also mit einer Kunst, die Form und Inhalt von Texten gleichermaßen auf Schönheit verpflichtet. Dabei schafft sie es durchaus, das Liniengeflecht von Freund- und Feindschaften in der Berliner Kunstszene bis hin zum kaiserlichen Hof (ein überforderter, schmerzlich einsamer, doch von seiner Kaiserwürde trunkener Wilhelm II) eindrücklich, ja hautnah nachzuzeichnen. „Hautnah“ ist übrigens, angesichts der schrecklichen Wolfskrankheit, die Tschudis Gesicht verwüstet, keine Metapher. Metaphern aber, unerhörte Wortverbindungen, überhaupt eine tollkühne Bildlichkeit – das ist es eigentlich, was dieses Buch zum Vibrieren bringt. Und das ist nicht ohne Risiko. Ja, der Kitschverdacht liegt nahe, ja, es tun sich sprachliche Abgründe auf, in denen Geschmackssicherheit und Realitätssinn, das muss man zugeben, schlicht absaufen. Was dieses Vorgehen rechtfertigt und den Kitschvorwurf ins Leere laufen lässt, sind nicht nur die auch vorhandenen Passagen, die ganz pur, ganz lakonisch, manchmal fast wie ein Telegramm daherkommen. Es ist die Beharrlichkeit, mit der Kühsel-Hussaini diese Bild-Abstürze wieder und wieder inszeniert. Besonders auffällig im Zusammenhang mit dem Organ, das die innere Welt fürs Sichtbare öffnet – und umgekehrt.
Angewiderter Augenpfeil. Unterwasser-Augen. Riesige runde Sonnenfinsternisse. Augen, die spielen, die leben wollen. Ekstatische Murmeln, eingelegt in die Gesichter. Ermattet, unsterblich und doch singend. Orkan in der Pupille. Verstörende Linsen, ins Nichts gebohrt.

Irgendwann begreift man, dass das keine Abstürze sind. Vielmehr wird hier auf der brüchigen Oberfläche der sprachlichen Struktur der Konflikt abgebildet und ausgetragen, von dem das Buch handelt: zwischen akademischer Malerei und Impressionismus, Nationaldünkel und Weltoffenheit, Marine-Stahlgrau und goldgrau-rosafarbenen Schatten. Was als Stilblüte irritiert, bildet lediglich den Zusammenprall unterschiedlicher Wirklichkeiten ab, gemalter und realer, sichtbarer und geistiger, im Museum, auf der Straße, im Salon. Und wie bei jedem ordentlichen Zusammenprall springt dabei ein Funke über zwischen den Gegenspielern und erzeugt etwas Drittes. Im besten Fall einen Geistesblitz, der die Weite einer nie geahnten, nie gesehenen Landschaft erhellt. Wer als Leser, als Leserin diese Herausforderung annimmt, belohnt sich selbst. Mit der Öffnung des eigenen Blickes durch die Farben der Sprache.
Erscheinen im Rowohlt Verlag 2020.
Wie die Moderne nach Berlin kam – Mariam Kühnel-Hussainis Roman ‘Tschudi’ – Ruth Fühner