Eine Freundin hat mich zum Sticken gebracht. Ich hatte diese wunderbare Betätigung bis dahin noch immer in die verstaubte, biedere Ecke der Muttis und Omis am heimischen Herd gepackt. Auch weil das Sticken weiblich konnotiert ist. Sticken transportierte jahrhundertelang weibliche Tugenden wie Sittsamkeit, Mäßigung und Fleiß.
Inzwischen aber hat es das ‚Brave-Mädchen-Image‘ verloren, das ist auch auf den Social-Media-Kanälen zu sehen: Der pandemiebedingte Lockdown hat die Lust am Handarbeiten mit Nadel und Faden verstärkt. Unzählige Anleitungen im Internet und eine beachtliche Anzahl von Posts auf Instagram beweisen die zunehmende Begeisterung. So habe ich entdeckt, dass Doris Dörrie dort ihre Pandemie-Tischdecke zeigt. Die Regisseurin und Buchautorin hat über die Monate immer neue Motive hinzugefügt. Zum Teil verbindet sie die Corona-Pandemie mit Zitaten aus der Kunstgeschichte (wie die ‚2. Welle‘ in Anspielung an die Große Welle von Hokusai), aber es finden sich auch ein Selbstporträt, Katzen, Blumen etc.
Außerdem ist Sticken in der bildenden Kunst angekommen! In der Geschichte eine zwar hochgeachtete Kulturtechnik (man denke nur an die kostbar bestickten Gewänder weltlicher und geistlicher Fürsten), stand das Sticken als Kunsthandwerk doch immer weit unter den Künsten der Malerei oder Bildhauerei. Aber: Seit einigen Jahren hat sich die Stickkunst emanzipiert und ist in bedeutenden Galerien und auf wichtigen Ausstellungen vertreten.
Bei meinen Recherchen stieß ich auf so viele, sehr unterschiedliche gestickte Kunstschätze, dass die Auswahl für meinen Artikel nur eine willkürliche, nach meinem Geschmack getroffene sein kann.
Textile Kunst auf der 57. Venedig Biennale 2017 …
Die von Christine Marcel kuratierte Biennale bot generell viel Textilkunst: „Tapisserien und Makramee-Verschlingungen, überdimensionierte bunte Wollknäule, Gesticktes, Genähtes und weitere ganz konkrete Fäden durchziehen Christine Macels internationale Ausstellung Viva Arte Viva.“ (Zitat: Textile Art Forum)
Mending Project – Lee Mingwei
Lee Mingwei aus Taiwan reparierte bei seinem Mending Project kaputte Kleidung: Stickenderweise entstand so ein persönlicher Austausch zwischen Künstler und Publikum. Das Miteinander, das Selbermachen und die Nachhaltigkeit stehen bei Mingweis konzeptueller, interaktiver und partizipatorischer Kunst im Mittelpunkt: Ein Gegenpol zur Konsumgesellschaft. Defekte Kleidung muss nicht entsorgt werden, sondern wird – gemeinsam – wieder hergerichtet.
Während Lee Mingwei das Textil repariert, sprechen Künstler und Klamottenbesitzer*in über die Bedeutung des Kleidungsstückes und warum es wert ist, repariert zu werden. Mit der Zeit, die das Sticken dauert, wird klar, wie wertvoll das Kleidungsstück und menschliche Beziehungen sind und dass beides zuweilen zusammen gehören kann.
Dabei bringt der Künstler seine eigene Geschichte in dieses Projekt mit ein: Am 11. September 2001, am Tag des Terroranschlages, arbeitete sein Lebensgefährte im New Yorker World Trade Center. Mingwei wartete voller Sorge darauf, dass sein Partner nach Hause käme. Er nahm seine Kleidung, reparierte das ein oder andere Stück und fühlte Trost und Verbundenheit. Es war seine Art, mit dem Schock und der Angst umzugehen – bis sein Partner glücklicherweise nach Hause kam. Mingwei verarbeitete das traumatische Erlebnis 9 Jahre lang, bevor er seine Erfahrungen in dieses Kunstprojekt einfließen ließ.
Bis Mitte September 2021 war Lee Mingwei in München in der Villa Stuck zu sehen: The Mending Project war auch mit dabei.
… und gestickte Kunst auf der documenta 14 in 2017
Auch die documenta 14 in Kassel zeigte 2017 jede Menge Textilkunst.
Historja – Britta Marakatt-Labba
Berührend war die über 20 Meter lange Stickerei Historja von Britta Marakatt-Labba. Unzählige gestickte Bildergeschichten reihen sich auf der ellenlangen Stoffbahn aneinander. Sie zeigen das Leben der Sámi, der indigenen Bevölkerungsgruppe Nordschwedens, Finnlands und Russlands, der auch die Künstlerin angehört. Den Sámi wird die politische Selbstbestimmung verwehrt. So ist diese, auf den ersten Blick und durch die traditionelle handwerkliche Technik lieblich anmutende, gestickte Geschichte gleichzeitig ein politisches Statement. Die lange Erzählung spiegelt die Traditionen des Volkes wider: Das Zusammenleben von Mensch und Tier, Rentierherden in arktischen Wäldern, idyllische Natur und brutale, blutige Aufstände. So wie das Leben der Sámi eben über die Jahrhunderte war.
Vier lange Jahre brauchte die Künstlerin für die Arbeit und es floss die „Erzählkunst der Sámi ein, in der Heiliges und Profanes im Alltag nebeneinandersteht.“ (Zitat:documenta website).
Ein Beispiel zeitgenössischer Textilkunst in Deutschland: Sticken mit Victoria Martini
Die deutsche Künstlerin mit belgischen Wurzeln stickt vermeintlich banale Motive wie Wolken, Löwenzahn, Bauzäune oder Details einer Innenarchitektur. Eine andere Werkreihe zeigt Frauenfiguren in Schwarz-weiß, die einem Comic entsprungen scheinen – eine Anspielung auf die Pop-Art, die Martini liebt. Roy Lichtenstein ist als Vorbild erkennbar.
Die rosafarbene, idyllische Hintergrundlandschaft, die an bedruckten Dekostoff erinnert, jedoch bemalt ist, erscheint wie ein virtueller Raum. Auch die Zeit spielt eine Rolle: Gegen unsere schnelllebige Welt und den unendlichen Bilderreigen der digitalen Medien, stickt Victoria Martini langsam Stich für Stich und ahmt damit die lineare Darstellung nach. Die Motive haben ihrerseits einen Zeitraum überdauert, in dem sie mehrfach reproduziert wurden: Von der ursprünglichen Zeichnung über den Comic in einer Tageszeitung, bis sie schließlich von Lichtenstein gemalt und nun von Martini gestickt wurden.
Die in München ansässige Künstlerin collagiert Bilder, die sie im Netz findet mit selbstgemachten Fotos und Bildern anderer Künstler. Aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen, werden sie von der Künstlerin wieder neu zusammengesetzt und es entsteht etwas Neues. Die Arbeiten wirken auf den ersten Blick lieblich, jedoch verwirrt auf den zweiten Blick, dass es sich nicht um grafische Zeichnungen handelt, sondern um gestickte Striche. Auch die Motive zu enträtseln, verlangt eine gewisse Zeit. Diesen Widerspruch finde ich reizvoll: Eine skizzenhafte Zeichnung, die vermeintlich besonders schnell gefertigt ist, erweist sich als zeitaufwendige Stickerei.
Fazit: Selbstverständlich hat diese Kunst nicht mehr viel mit den hausbackenen Kreuzstichblümchen im Stickrahmen zu tun. Der Gegensatz zwischen der althergebrachten Kulturtechnik und einer gesellschaftskritischen Gegenwartskunst birgt eine zusätzliche Ironie. Und die Kunst mit der Nadel ist ein zusätzliches künstlerisches Medium neben Malerei, Graphik, Bildhauerei, Fotografie und Installation geworden.
Stick-Kunst transportiert eine Message, wie es sich für gute Kunst gehört: Sie ist gesellschaftskritisch, politisch, partizipativ und zeigt die Ambivalenz auf, die zwischen der biederen Hausfrauentätigkeit und der High-Art besteht.
Schlussendlich ist es auch eine herrlich kreative Beschäftigung.
Wer noch mehr über Textilkunst erfahren möchte:
Textilkunst in Düsseldorf im K10
Sticken ist das neue Malen – Contemporary Embroidery – Textilkunst