Der monumentale, schwarze Kronleuchter aus Muranoglas von Ai Weiwei in Venedig
Die Biennale in Venedig 2022 hat eben die Pforten geschlossen und auch die sogenannten Collaterali – die zusätzlichen Ausstellungen, die parallel zur Biennale laufen – sind nun vorbei. Kurz vorher hatte ich noch die Gelegenheit mir die Ausstellung von Ai Weiwei in der Kirche San Giorgio Maggiore in Venedig anzusehen.
Ich muss vorausschicken, dass ich die Kunst des chinesischen Vorzeigekünstlers, Dissidenten und Aktivisten oftmals als zu platt empfunden habe. Trotzdem wollte ich seine Werke in der von Andrea Palladio entworfenen Kirche mit angeschlossener Benediktiner-Abtei unbedingt sehen. Man erreicht die kleine Insel auf der San Giorgio steht, mit dem Vaporetto, dem venezianischem Wasserbus. Die Basilika liegt direkt gegenüber vom Markusplatz und ist übrigens schon ohne Ausstellung einen Abstecher wert. Sie beherbergt zwei berühmte Gemälde, aus dem 16. Jahrhundert: Tintorettos Das letzte Abendmahl und Die Mannalese, die Szene aus dem Alten Testament.
Mächtig hängt in der Mitte des hellen und freundlichen Kirchenraumes Ai Weiweis schwarze Skulptur aus Muranoglas. Wie ein monumentaler Kronleuchter baumelt das Gebilde von der Decke: Fast 9 Meter hoch und 6 Meter breit, 2.700 kg schwer, bestückt mit über 2.000 schwarzen Glasstücken. Ohne Glühbirnen – es ist ja kein Kronleuchter, sieht nur so aus. Je nach äußerer Beleuchtung durch Tageslicht oder Lampen in der Kirche glänzt die Skulptur goldfarben oder wirkt dunkel und stumpf.
Von nahem betrachtet, hat das Material die Anmutung von Kunststoff, da es ganz matt ist. Ich kann erst gar nicht glauben, dass die Teile aus Glas sind. Schwarz und intransparent zeigen sie auch keinen Glanz und keine Reflexion: ein durch und durch stumpfes Material. Der Symmetrie eines Kronleuchters folgend, sind alle Arme des Leuchters sehr ähnlich gestaltet und tragen die gleichen Elemente. Es sind jedoch keine glitzernden Kristalle, keine geschliffenen Prismen, sondern Oberschenkel- und Armknochen, Gedärme, Hand- und Fußskelette, Beckenknochen und menschliche Totenköpfe sowie Tierschädel. Zusätzlich bevölkern bekannte Symbole wie der Twitter-Vogel, Überwachungskameras und Fledermäuse das Gehänge. Alles Gegenstände, die Ai, so sein Familienname, bereits oft in seine Kunst einarbeitete. Auch sein wütend gezeigter Stinkefinger findet sich bei einigen Hand-Skeletten wieder. Die Fülle der Formen und Elemente lässt mich staunen und lange Zeit schauen: Immer wieder entdecke ich etwas Neues.
La Commedia Umana – die menschliche Komödie, so heißt der Riesenleuchter. Über drei Jahre haben Ai Weiwei und das Berengo Studio und die Fondazione Berengo daran gearbeitet. Auf der für ihre Glaskunst seit dem 15. Jahrhundert bekannten Insel Murano sitzen auch heute noch die Meister ihres Fachs. Insbesondere die Experten von Berengo haben schon einige Kunstwerke aus Glas geschaffen. In einem eindrucksvollen und aufwendigen Verfahren mit traditionellen und modernen Techniken werden die Glasfragmente geformt oder gegossen und sind alle handgefertigt.
Und was will uns diese riesige, hängende Installation nun sagen? Manche denken sofort an die Covid-19-Pandemie, obwohl die Arbeit an dem Werk vor Ausbruch von Corona bereits begonnen wurde. Durch die Knochen, Skelette und Organe liegt es allerdings nahe, an Vergänglichkeit zu denken. In den Sinn kommt mir daher natürlich auch der Krieg in der Ukraine. Ein dramatisches Denkmal für die, die bei gewaltvollen Konflikten zu Tode kommen. Nach Aussage des Künstlers sei es ein Manifest, das „versucht, über den Tod zu sprechen, um das Leben zu feiern“.
Noch mehr Glas
In den Räumen des Klosters sind weitere Kunstwerke von Ai aus Glas zu sehen. Gut gefallen hat mir das Selbstportrait Artist in Invidia aus Glas.
Das gläserne Konterfei von Ai Weiwei macht ein sogenanntes Duckface – die zum Kussmund geschürzten Lippen, die gerne für Selfies auf Social Media benutzt werden. Seine schlaffen und faltigen Brüste hängen müde am Oberkörper herunter. Schlangen mäandern um Kopf und Hals des Künstlers und lassen zuerst an welliges Haar denken. Spontan amüsiert mich die Skulptur. Invidia bedeutet Neid oder Missgunst. Ein Artikel in der Weltkunst liest es als „einen hochinteressanten künstlerischen Wettstreit mit dem deutschen Bildhauer Thomas Schütte, dessen berühmte Berengo-Heads – die auf Murano in der gleichnamigen Manufaktur geschaffenen großformatige Glasköpfe – zuletzt in der Bourse du Commerce in Paris gezeigt wurden.“ Hier ein Bild: Die Ähnlichkeit ist frappierend.
Die Imitation einer typischen Plastik-Verpackung für Take-Away-Food ist ebenfalls gelungen. Wie eine wertvolle Reliquie steht die Verpackung auf einem Sockel in einer Glasvitrine. Die beiden Stäbchen verraten, dass offensichtlich asiatisches Essen geliefert wurden. Glass Takeout Box ist aus rosafarbenem Glas. In der Nachbarvitrine steht Glass Toilet Paper und soll die Zerbrechlichkeit unserer Gesellschaft widerspiegeln. Ich mag unkonventionelle Ironie, aber so wie ich die grassierenden Toilettenpapierwitze zu Beginn der Pandemie schnell leid war, ist mir diese Skulptur doch zu platt.
Ai Weiweis Legobilder
Die chinesischen Tierkreiszeichen empfangen mich in den Ausstellungsräumen der Abtei. Zwölf quadratische und grellfarbige Bilder zeigen Hund, Ratte, Drache, Schwein und Co – nicht gemalt, sondern aus Legosteinen zusammengesetzt. Die Imitation der Malerei geht so weit, dass vermeintlich tropfende und herunterlaufende Farbe mit den bunten Plastik-Bausteinen dargestellt wird. Interessant finde ich die Idee, uralte chinesische Tradition mittels Plastik-Bausteinchen aus Europa darzustellen. Und allemal ein schöner Hingucker.
Fun fact: Da sich Lego geweigert hatte, Ai Weiwei Spielzeugsteine zur Verfügung zu stellen, bekam der Künstler die Legosteine aus aller Welt zugeschickt.
In den folgenden Räumen geht es mit Legobildern weiter: Die arabische Flagge (weiße arabische Schrift über weißem Schwert auf grünem Grund) wirkt für westliche Betrachter*innen wie das genaue Abbild des Originals. Allerdings, erklärt mir eine der Kunstvermittlerinnen, dass die Schrift nicht das Glaubensbekenntnis des Islam zeigt, sondern den Satz: „I can’t breathe“. Während mich dieser Satz sofort an den Todeskampf von Georg Floyd erinnert, lerne ich, dass dies auch die letzten Worte von Jamal Khashoggi waren. Der saudische Journalist und Kritiker des saudi-arabischen Kronprinzen und seines Regimes wollte auf dem Konsulat in Istanbul Papiere für seine Hochzeit abholen. Er hat das General- Konsulat nie wieder lebend verlassen. Die Untersuchungen ergaben, dass Khashoggi gefoltert und anschließend ermordet wurde. Auf Tonaufnahmen sind seine letzten Worte ‚I can’t breathe‘ zu hören. Durch Ai Weiweis Legobild ist das Grauen dieser ungeheuerlichen Tat von 2018 präsent – das finde ich beeindruckend.
Ai Weiweis Protestaktion Vase drop von 1995 wurde seinerzeit auf drei Fotos festgehalten: Sie zeigen den Konzeptkünstler, wie er eine Vase aus der Han-Dynastie fallen lässt. Das wertvolle Stück zerschellt am Boden. Eine solche Vase gilt als Inbegriff der chinesischen Kultur. AI wollte damit die Zerstörung darstellen, die das kommunistische Regime in China bewirkt hat und wie sehr es für den Verlust der alten chinesischen Kulturgüter verantwortlich ist. Die Empörung einiger Leute über das ruinierte Artefakt konterte Ai, indem er beschrieb, was General Mao den Chinesen zu sagen pflegte: ‚Der einzige Weg, eine neue Welt aufzubauen, ist die Zerstörung der alten.‘
In San Giogio Maggiore ist daraus ein Triptychon ist mit grauen, schwarzen und weißen Legosteinen geworden, analog den damaligen Schwarzweiß-Fotos.
Als Ai Weiwei 2011 festgenommen wird, schießt er ein Selfie von sich und seinen Bewachern im Spiegel eines Fahrstuhls. Das Foto postet er im Internet, wo es ein Millionen-Publikum erreicht. Jede Nachrichtensendung im Westen berichtet über den heldenmütigen Rebellen. Seither ist er nicht nur bei einigen Kunstinteressierten bekannt, sondern wird zur Ikone des Widerstandes gegen das chinesische Regime. Letztlich wird der Künstler 81 Tage gefangen gehalten und rund um die Uhr überwacht. Dies hat Ai ebenfalls in der Installation Sacredverarbeitet. Sie wurde 2013 in Venedig gezeigt.
Das Foto seiner Festnahme ist ebenfalls mit Legosteinen nachgebaut.
Auch das berühmte Bild der schlafenden Venus von Giorgione und Tizian aus der Renaissance eignet sich der chinesische Künstler an. Es ist auch deswegen so bekannt, weil es sich um den ersten Frauenakt der Kunstgeschichte handelt: Getarnt als Göttin war Nacktheit in der Kunst akzeptiert. Das Legobild ist drei mal fünf Meter groß – viel größer als das Original. An der unteren linken Ecke ist ein Drahtbügel zu erkennen, wie er in Reinigungen vorkommt. Leider habe ich nicht rausfinden können, warum dieser Gegenstand das Venus-Bild ziert.
Das pixelartige Aussehen suggeriert einen digitalen Ursprung, der hier durch die Bausteine entsteht. Und im Grunde sind die Legobilder eine schöne Mischung aus High Art und Gebrauchsgegenständen, es gibt nur einen Haken: Spätestens nach drei weiteren angeeigneten ikonischen Kunstwerken (Camille Pissaro, Edvard Munch, Piet Mondrian) finde ich die Legobilder dann doch allzu leichtbekömmlich. Für meinen Geschmack ist es ein Zuviel von Reproduktion von Kunst-Ikonen, um die eigene Arbeit durch den Wiedererkennungseffekt der übernommenen Motive zu pushen. Und außerdem ist irgendwann die Benutzung des ungewöhnlichen Materials dann doch überstrapaziert.
Fazit
Ai Weiwei gehört zu den berühmtesten Künstlern der Welt und provoziert mit seinen Werken. Er mischt sich in politische und gesellschaftliche Konflikte ein, kritisiert das chinesische Regime, Armut, Menschenrechtsverletzungen insbesondere im Zusammenhang mit den Geflüchteten seit 2015 und alle diktatorischen und autokratischen Systeme. Der Aktivist ist streitbar: Unter anderem unterstellte er den Deutschen einen autoritär-faschistischen Charakter und siedelte vor einiger Zeit von Deutschland nach Portugal um. Er ist allerdings unermüdlich unterwegs, um Ungerechtigkeiten mit den Mitteln der Kunst anzuprangern.
Die meisten Werke in der Basilika und dem Kloster San Giorgio Maggiore sind ein großartiges Erlebnis für die Augen und den Geist. Der Wucht des riesigen schwarzen Leuchters kann man sich nicht entziehen und die Legobilder sind ein ironischer Kommentar zu Schieflagen in der Welt. Ich bin froh, die Ausstellung noch kurz vor Schluss gesehen zu haben. Sicherlich gibt es bald die Möglichkeit die Werke in nachfolgenden Ausstellungen in anderer Umgebung zu sehen.
Ai Weiwei in Venedig – britta kadolsky