Gerade hat Britta ihren letzten Artikel über das Porträt eingestellt, da stoße ich zufällig bei einem Sevilla-Besuch auf eine Ausstellung, die genau daran anschließt. La Imagen Humana, Das Bild des Menschen heißt die Schau im Kulturforum der Caixa-Bank, die aus den reichen Beständen des British Museum schöpft. Einige Exponate, die mich besonders angesprochen haben, möchte ich hier vorstellen und dabei der Frage nachgehen, warum gerade sie mich so faszinieren.
Faszination Porträt
Mit einem Paukenschlag geht es los. „Das wahrscheinlich älteste Porträt der Welt“ nennt die Ausstellung einen Schädel, der vor ungefähr 11000 Jahren (!) in Jericho bestattet wurde.
Die Kalotte ist nackter Knochen, doch die Augenhöhlen sind mit Muscheln bedeckt und Wangen wie Kinn mit Lehm so überformt, dass es an lebendiges Fleisch erinnert. Was bewegte den, der das machte? Der Wunsch, eine Ahnin, einen Verwandten lebensecht in Erinnerung zu behalten? Hoffnung auf ein Weiterleben oder Wiederauferstehung nach dem Tod? Ein Versuch, tote Geister zu bannen? Ich weiß es nicht. Was ich weiß ist, dass dieser Schädel in mir eine beinah körperliche Reaktion auslöst: als ob ich fühlen könnte, wie es gewesen sein muss, ihn in der Hand zu halten und ihn mit Lehm zu bestreichen, die Muscheln in die Augenhöhlen zu drücken – und es fühlt sich an wie ein Akt der Ehrfurcht, aber auch der Zärtlichkeit.
Das Menschenbild in der Fotografie
Schon ein paar Schritte weiter stockt mir der Atem. Wie oft hab ich schon unbekleidete Frauen auf einen Diwan hingestreckt gesehen, seit Velazquez seine nackte Venus malte – gefühlte tausend Mal. Aber noch nie hat mich eine so berührt wie diese.
Natürlich schleppt das Bild die ganze abendländische Kunst- und Gesellschaftsgeschichte der Nacktheit mit sich herum: paradiesische Unschuld, erotischer Kitzel, und immer ist es der Blick eines männlichen Subjekts auf ein weibliches Objekt. Auch dieses Foto hat ein Mann gemacht. In mir weckt es den geradezu körperlich spürbaren Wunsch, diese Frau, Eva Saumell heißt sie, zu beschützen, zu umhüllen. So unmittelbar kommt sie mir entgegen. So traurig erscheint sie mir. Doch obwohl sie ihre Nacktheit verletzlich erscheinen lässt, ist sie weder Schaustück noch Opfer. Bei aller Ausgesetztheit umgibt sie etwas Unantastbares, als ob sie sich in einen inneren Raum zurückgezogen hätte. Vielleicht ist es das, was man Würde nennt.
Ganz am anderen Ende des Spektrums von Nacktheit und Verhüllung, fragiler Selbstbehauptung und massiver Fremdbestimmung über den weiblichen Körper steht die Fotoarbeit von Boushra Yahya Almutawakel.
Die jemenitische Fotografin ist eine von auffällig vielen KünstlerInnen aus dem Nahen Osten, die das British Museum in dieser Ausstellung präsentiert. Die Serie zeigt neunmal die Künstlerin selbst, ihre Tochter und eine Puppe. Das heißt – eigentlich zeigt sie sie nur achtmal, immer unkenntlicher, in immer dichterer Vermummung. Auf dem neunten Bild sind die drei komplett unsichtbar geworden, es besteht aus einer einheitlich schwarzen Fläche. Fast schon überdeutlich lenkt die Arbeit den Blick darauf, dass mit der Verhüllung Frauen nicht nur aus der Öffentlichkeit ausradiert werden. Ihr Ausschluss steht auch für das Auslöschen ihrer Seelen.
Stillende, schwarze Madonna
Mit der Kunst von Vanessa Beecroft habe ich meine Schwierigkeiten. Zu spekulativ für meinen Geschmack setzt sie auf kalkulierte Grenzgänge zum Skandal – wie 2005 in der Berliner Nationalgalerie, als sie hundert nackte Frauen auftreten ließ und die BetrachterInnen mit dem eigenen Voyeurismus konfrontierte. Auch dieses Foto einer südsudanesischen Frau mit ihren Zwillingen ruft gemischte Gefühle wach – und lässt mich doch nicht schnell wieder los:
Auch hier ist der Bezug auf die Kunstgeschichte unübersehbar: auf Madonnenabbildungen ebenso wie auf die roten Roben mächtiger Männer, vornehmlich Kaiser oder Kardinäle. Einher geht das mit einer Hochglanz-Oberfläche, die der Werbeästhetik entliehen ist. Im scharfen Kontrast dazu steht das entrückte Gesicht dieser Schmerzensmutter mit ihren Kindern, stehen die knochigen Hände, die eher von Hunger und Not zu künden scheinen als vom Glamour der Supermodels. Auch das entspricht christlicher Ikonographie und Lehre: dem Versprechen auf die Umkehrung der Verhältnisse, die die Mächtigen von ihren Thronen stößt und die Niedrigen erhöht. Warum wirkt das so beunruhigend? Warum irritiert das Zusammentreffen von Schönheit und (unterstelltem) Elend? Vielleicht auch, weil es sinnfällig die verschwiegene Wahrheit ausposaunt, dass unsere Wohlstandswelt nicht unschuldig ist an der schreienden Armut anderswo.
Ephemere Porträts
Spielerisch und zugleich wie eine endlose Sisyphus-Arbeit wirkt das einzige Video der Ausstellung. Wir sehen die Hand des Kolumbianers Oscar Munoz beim Versuch, ein Selbstporträt zu malen. Nur dass die Hand den Pinsel nicht in Tinte, sondern in Wasser taucht. Das wiederum saugt der Beton-Untergrund so rasend schnell auf, dass wir das Gesicht nie als Ganzes sehen und die Hand immer wieder von Neuem (am linken Ohr!) ansetzen muss. Ein meditativer Essay über die ständige Arbeit am eigenen Ich und die Flüchtigkeit der Identität.
Die Ausstellung in Sevilla geht noch bis zum 29.5.2022.
Das Bild des Menschen – Ruth Fühner