Lehmbruck-Museum – Alicja Kwades Installationen laden zum Nachdenken ein
Während ich neben der Bronzeskulptur Selbstporträt als Geist stehe, fällt mir auf, wie klein und zierlich Alicja Kwade sein muss. Ihr Körper ist unter dem ‚Tuch‘ nur schemenhaft zu erkennen. Seine Ausmaße wurden mittels eines 3D-Scans ermittelt und anschließend als Bronzeskulptur reproduziert. Grün patiniert steht das ‚Gespenst‘, einen Kopf kleiner als ich, im Lehmbruck-Museum vor der Sichtbetonwand. Ein paar Meter weiter steht Wilhelm Lehmbrucks gebeugte Skulptur ‚Der Gestürzte‘, die die Qualen des Ersten Weltkrieges verdeutlicht.
Ich liebe den Bau des Lehmbruck-Museums in Duisburg, den Manfred Lehmbruck für die Skulpturen seines bereits verstorbenen Vaters Wilhelm 1964 entworfen hat. Diese klar strukturierte Architektur aus Beton und Glas ist luftig und so modern, dass man ihr die 60 Jahre nicht ansieht.
Die Skulpturen von Lehmbruck, insbesondere die der späteren Schaffensperiode mit ihren gelängten Gliedmaßen, berühren mich immer wieder: Das Grauen und die unermessliche Trauer des Krieges lasten so auf seinen Figuren, dass sie beim Betrachten körperlich spürbar werden.
Aber ich bin gekommen, um die Ausstellung von Alicja Kwade In Agnosie anzuschauen.
Alicja Kwade – monumentale Installationen
Alicja Kwade, eine deutsche Künstlerin polnischer Herkunft, ist vor allem als Bildhauerin und Installationskünstlerin bekannt. Als Kwade acht Jahre alt war, floh ihre Familie nach Deutschland. Sie studierte Kunst an der UdK in Berlin und betreibt dort auch ihr großes Atelier, das sie wie eine ‚Kunstfabrik‘ mit mehreren freien und festangestellten Mitarbeiter:innen managt. Im Laufe der Jahre wurde Kwade mit zahlreichen Kunstpreisen ausgezeichnet und zählt mittlerweile zu den erfolgreichsten deutschen Künstler:innen. Sie hat enorm viele Ausstellungen weltweit aufzuweisen und erstellt auch immer wieder Auftragsarbeiten. Für ihre oft raumgreifenden Arbeiten braucht es einen immensen Logistikapparat.
In ihrer Kunst beschäftigt sich Kwade mit Fragen nach dem Selbst, der Zeit, der Wahrnehmung, aber auch mit Alltagsgegenständen, die uns alle umgeben. Dabei hinterfragt sie unsere vorgefertigten Meinungen, Regeln und Gewohnheiten sowie die jahrelang eingravierten Erfahrungen. In Agnosie, so der Titel dieser Ausstellung, bezeichnet Störungen im Erkennen und richtigen Interpretieren von Sinneseindrücken. Das klingt alles sehr abstrakt, also schaue ich mir an, wie sie das konkret umsetzt. Bereits bei der ersten Arbeit wird klar, was gemeint ist:
Verblüffende Perspektiven: Kwades Werke laden zu einer neuen Sichtweise ein
Am meisten hat mich die Installation Emergenz von 2019 beeindruckt: Sieben Objekte, die in einer Reihe hintereinander am Boden liegen, sind jeweils durch einen doppelseitigen Spiegel voneinander getrennt. Das erste Element wirkt wie ein riesiger Kristall mit verspiegelten geometrischen Oberflächen. Das nächste Element ist ein künstlicher grauer Stein, der klare und glatte Oberflächen hat. Danach liegt ein natürlicher Felsbrocken in der Reihe. Es folgen: Eine blaue Steinkugel, eine grüne, runde Vase und als Letztes eine Bronzeschale. Alle Objekte sind mit einem Spiegel voneinander getrennt und haben eine unterschiedliche Form.
Während ich daran vorbeigehe, scheinen die Objekte miteinander zu verschmelzen. Meine Sinne werden verwirrt. Ich gehe immer wieder einen Schritt vor und zurück, um die Verwandlung zu sehen: Aus dem Felsbrocken wird eine blaue Marmorkugel, mit den scheinbar gleichen Formen. Ich erkenne die Unterschiede zwischen den Elementen, und während ich mich bewege, scheinen die Objekte jeweils zur Hälfte aus dem einen und zur Hälfte aus dem nächsten Element zu bestehen. Durch meine Bewegung geht der Zustand eines Objektes fließend in einen anderen Zustand über – und obwohl ich ja weiß, dass dem nicht so ist, bewirkt das getäuschte Auge, dass sich das Gehirn direkt ‚mit-täuschen‘ lässt. Faszinierend. Bis zum siebten Objekt innerhalb der Installations-Reihe hat sich das Objekt von einem Kristall mit eckigen Spitzen zu einer runden, goldenen Schale transformiert.
Inspirierende Rätsel: Alicja Kwades Doppel-Porträts als intellektuelle Herausforderung
Eine frühe Arbeit aus ihrer Zeit als Studierende sind die beiden Schwarzweiß-Fotos Ich ist eine Andere von 2001. Es scheint sich um ein gespiegeltes Selbstporträt der Künstlerin zu handeln, wobei eines der Fotos jedoch eine fremde Frau ist, deren Bild in einer Zeitung abgedruckt war. Diese irritierende äußere Ähnlichkeit veranlasste Kwade, sich in derselben Pose unter ähnlichen Lichtverhältnissen zu fotografieren. Die beiden Fotos hängen nebeneinander und Kwade scheint sich selbst anzuschauen. Diese Arbeit beinhaltet Fragen nach dem Selbst: Wer bin ich? Bin ich anders als die anderen? Was macht mich aus?
Damit im Zusammenhang steht Nissan (Parallelwelt 1 + 2): Die beiden silbernen Nissans ‚parken‘ im Hof vor der Glasfront des Museums. Beide Autos sehen auf den ersten Blick gleich aus, bei näherer Betrachtung jedoch spiegelverkehrt: Das eine Auto ist ein Rechtslenker, das andere, üblich für Deutschland, ein Linkslenker. Die Beulen und Schrammen finden sich gespiegelt beim jeweils anderen Auto wieder, und das Autokennzeichen zeigt die Zahlen in umgekehrter Reihenfolge. Diese Spiegelung treibt Kwade so weit, dass auch Gegenstände, etwa ein schwarz-weiß gestreiftes Shirt auf der Rückbank oder ein Kaffee-to-go-Becher im Türfach – bei einem Auto auf der rechten und bei dem anderen Auto auf der linken Seite platziert sind. Die gedoppelt wirkenden Autos wurden von der Alicja Kwade und ihrem Freund jahrelang gefahren.
DNA als Selbstporträt: Eine innovative künstlerische Darstellung der eigenen genetischen Identität
In Alicja Kwades Arbeit DNA als Selbstporträt wird das Erbgut der Künstlerin in Form von Buchstabenreihen auf Papier dargestellt. Ein forensischer Wissenschaftler hat ihre DNA aus ihrem Blut ausgelesen und das Genom in gedruckter Form auf über 269.000 Seiten festgehalten. Von diesen Seiten sind 25 gerahmt und im Museum ausgestellt.
Die Arbeit wirft interessante Fragen auf: Was bedeutet ein Selbstporträt? Wie können wir unsere Identität auf eine greifbare Art und Weise darstellen? Kwade zeigt, dass unsere genetische Zusammensetzung uns als Individuen definiert. Allerdings ist die DNA bei allen Menschen zu 99,9% identisch. Nur die minimalen Abweichungen machen uns wirklich einzigartig. Die Buchstaben, die auf den bedruckten Blättern hervorgehoben sind, markieren diese Abweichungen bei Kwade. Diese innovative und konzeptionelle Darstellung der eigenen genetischen Identität verbindet Kunst und Wissenschaft.
Leider bietet das Museum keine Informationen zu dieser faszinierenden Arbeit. Ohne Erklärungen stehen wir als Besucher:innen vor den Seiten und können wenig damit anfangen. Es wäre wünschenswert gewesen, mehr Hintergrundinformationen und Kontext zu erhalten.
Kwade hat aus diesem Kunstwerk NFTs (Non-Fungible Tokens) erstellt. Die digitalen Unikate können im Internet gehandelt werden. Dies eröffnet neue Möglichkeiten, die Arbeit einem breiteren Publikum zugänglich zu machen – außerdem profitiert die Künstlerin von jedem Wiederverkauf direkt.
Kunstvolle Perspektiven: Alicja Kwades Skulpturen eröffnen neue Betrachtungswinkel
Bei jedem weiteren Kunstwerk von Kwade schaue ich erst genau hin – mittlerweile bin ich geübt und weiß, dass immer noch mehr dahinter steckt – und freue mich, sobald ich was entdeckt habe. Meistens muss ich auch schmunzeln.
Die Wassermelone liegt, wie scheinbar vergessen, in einem Gang. Die Bronzeskulptur mit dem Titel Marsmelone wirkt anders als handelsübliche Melonen. Irgendetwas ist irritierend: Ich brauche eine Weile, um zu bemerken, dass die dunkelgrünen Wachstumstreifen auf der hellgrünen Schale horizontal statt, wie auf der Erde ;-) üblich, vertikal verlaufen.
Die vier von der Decke hängenden Mobiles, Superheavy Skies, baumeln mit ihren Felsbrocken über den Köpfen der Besucher:innen. Es könnte als Gefahr gedeutet werden. Die unterschiedlich großen und schweren Natursteine sind jedoch sorgfältig ausbalanciert. Die kreisen um sich selbst wie die Planeten um die Sonne und werfen dabei ein wunderschönes Schattenspiel an die Wand.
Die Baumskulpturen verbinden die Ausstellungsfläche mit dem Park draußen. In die Stämme der Bäume wurden Alltagsgegenstände gefräst, die vorher dreidimensional eingescannt wurden. Teile der Stämme bleiben unbearbeitet, wodurch zum einen das Material deutlicher zum Vorschein kommt und zum anderen die Frage nach dem Objekt gestellt wird: Ist es eine Bildhauerarbeit, ein Gebrauchsgegenstand oder ein Baumstamm? Wann ist ein Objekt ein Objekt, wann bekommt es einen Namen, wie wird es von uns benutzt? Das Material ist immer das Holz, aber wann wird aus dem Baum ein Gegenstand?
Fazit
Oft leben wir mit Annahmen, die wir nicht mehr überprüfen. Das zu hinterfragen, was man sieht, fordert Alicja Kwade mit ihrer einzigartigen Formensprache jedoch auf faszinierende Weise immer wieder ein. Es geht nicht darum, Antworten auf Fragen zu finden, sondern lediglich zu in Frage zu stellen, was wir wahrnehmen. Alicja Kwade ist mit ihren Arbeiten in der Tradition der Bildhauerei einerseits und als avantgardistische Konzeptkünstlerin andererseits unterwegs.
Ein Tipp zum Lehmbruck-Museum für Besucher:innen:
Der Skulpturenpark, in dem das Museum liegt, ist öffentlich zugänglich und birgt famose Schätze der Bildhauerei: Richard Serra, Henry Moore, Antony Gormley, Julian Opie und nun auch Alicja Kwade mit ihrem l’ordre des mondes (Totem) uvm. Absolut empfehlenswert. Und mitten in Duisburg.
In meinem Artikel über die Darstellung der Zeit in der Kunst habe ich auch schon mal kurz über Alicja Kwade geschrieben.
Alicja Kwade im Lehmbruck-Museum
Lehmbruck-Museum – Alicja Kwades Installationen laden zum Nachdenken ein – Britta Kadolsky
Bildunterschrift zum Teaserbild: Alicja Kwade, Selbstportraet als Geist, 2019, Lehmbruck-Museum-©-die-Kuenstlerin-Foto-Dejan-Saric