Feuerle Collection in Berlin
britta kadolsky
Ich liebe ja die Kombination aus Kunst-Ausstellung und außergewöhnlicher Ausstellungslocation. Auch deswegen stand die Feuerle Collection in Berlin Kreuzberg schon lange ganz oben auf meiner Liste.

Der ehemalige Telekommunikationsbunker sollte im Zweiten Weltkrieg die Anlagen des Fernmeldenetzes der Deutschen Reichsbahn schützen. Der schlichte, langgestreckte obere Teil des grauen Bunkers am Halleschen Ufers wirkt von außen nicht spektakulär. Das Erd- und das Untergeschoss besteht jeweils aus riesigen freien Flächen, die nicht in einzelne Räume aufgeteilt sind: Über 6.500 Quadratmeter!
Wie bei den anderen Privatsammlungen auch, muss ich eine Führung buchen, um mir die Pracht von innen anzuschauen.

Der Bunker
Erst zwei Minuten vor unserem Termin, wird die schwere Eisentür geöffnet. Die Kunstvermittlerin gibt uns Erläuterungen zum Bunker, zur Kunst und den Exponaten. Dann bekommen wir erklärt, dass wir die Kunst in kompletter Stille anschauen werden und sie ihre Informationen deshalb alle am Anfang weitergibt. Auf den beiden Stockwerken gibt es keine Hinweisschilder zu den ausgestellten Werken. Nichts soll ablenken vom Genuss der Sinne. Wir werden aufgefordert, während der gesamten Besichtigung zu schweigen.

Es ist dunkel
Wir beginnen im Untergeschoss. Zur Einstimmung müssen wir uns in den sogenannten ‚Sound Room‘ begeben. Hier ist es stockdunkel. In dieser totalen Finsternis lauschen wir den Klängen des Musikstückes Music for Piano #20 von John Cage. Der US-amerikanische Künstler und Komponist John Cage (1912-1992) war einer der herausragenden Vertreter der sogenannten Neuen Musik. Berühmt wurde sein Stück 4 33, in dem vermeintlich viereinhalb Minuten kein einziges Musikinstrument zu hören ist. Allerdings nimmt man nicht die totale Lautlosigkeit wahr, sondern alle möglichen Umgebungsgeräusche, die während einer Performance entstehen.
Im ‚Sound Room‘ hören wir jedoch ungefähr 5 Minuten lang ein Stück experimenteller Musik, recht melodisch sogar. Ich stehe anfangs unsicher, dann immer entspannter im schwarzen Raum, sehe nichts und lausche: Eine gelungene Einstimmung!
Es öffnet sich eine Tür. Das schummerige Licht des Areals im Untergeschoss lässt mich die riesigen Dimensionen erst langsam erkennen: Alle paar Meter stehen massive rechteckige Betonsäulen, die diesen Raum strukturieren. Auf der linken Seite befindet sich ein See. Ja, ein unterirdischer See. Riesige Glasscheiben trennen den ‚Lake Room‘ ab, und es ist schwierig, die genaue Größe des Wasserbeckens zu erkennen. Das kaum vorhandene Licht trägt sein Übriges dazu bei, die Sinne zu verwirren. Zusätzlich sind Spiegel angebracht – oder ist es nur die ruhige Wasseroberfläche, die spiegelt? Es hat jedenfalls etwas sehr Erhabenes, auf dieses unterirdische Wasser zu schauen.
Asiatische antike Möbel und Skulpturen und zeitgenössische Fotos

Mitten im Raum stehen Skulpturen der kambodschanischen Khmer aus dem 7. bis zum 13. Jahrhundert. Sie sind aus Stein, Bronze oder Holz und auf schwarzen Sockeln angebracht. Auf Podesten stehen antike kaiserlich-chinesische Lack- und Steinmöbel. Alle Exponate sind sehr großzügig in dem riesigen Areal verteilt. Jedes Ausstellungsstück wird mit einem Spot gezielt angestrahlt. Sonst erhellt kein Licht die Fläche.

An den Wänden hängen schwarz-weiß Fotografien: Zeitgenössische Kunst von Nobuyoshi Araki, einem der bedeutendsten Fotografen Japans, und Adam Fuss, einem britischen Fotografen. Die Kombination der antiken asiatischen Möbel und Skulpturen mit zeitgenössischer Fotografie ist überraschend und ungewöhnlich.
Die Fotos von Adam Fuss gefallen mir besonders gut. Hellgraue Wolken – oder ist es Rauch oder Qualm? – heben sich vor einem dunkelgrauen Hintergrund ab. Das Bild heißt: From the Series ‚my ghost‘. Ist es ein Geist? Ein weiteres Foto zeigt eine Matratze – ja, tatsächlich nur die obere Seite einer Matratze. Das gleichmäßige Rautenmuster der typischen Steppung ist einfach schön anzuschauen. Das Motiv glänzt silbrig. Ich bin mir nicht sicher, ob es an der Beleuchtung oder am Foto selbst liegt, aber ich bleibe lange davor stehen.

Auch weil ich die Bilder von Nobuyoshi Araki verstörend finde. Sie zeigen Frauen in unnatürlichen Positionen: Halbnackt oder nackt sind sie entweder in unschön verrenkten Haltungen gefesselt und strecken mir den Po entgegen oder hängen kopfüber von der Decke. Auf manchen Fotos räkeln sich sehr junge Frauen, die als Schulmädchen inszeniert sind und schüchtern von unten zur Kamera hoch lächeln. Die Fotos sollen erotisch sein, spielen aber auch mit einer Faszination an menschlichen Abgründen. Mir sind die Abbildungen zu explizit und außerdem frauenverachtend.

Fun fact: Die isländische Sängerin Björk ist ein solch großer Fan von Araki, dass sie ihm irgendwann Modell stand. Außerdem hat er die Fotos für eines ihrer Alben gemacht. Und: bei der Recherche nach geeignetem Bildmaterial (mit Benutzungsrecht) stoße ich auf Lady Gaga, die sich auch von Araki hat in Szene setzen lassen.

Anish Kapoor an der Betonwand
Am anderen Ende des riesigen Raumes angelangt, glänzt ein riesiges, rundes Spiegelobjekt. Die Wandskulptur aus poliertem Stahl ist von Anish Kapoor. Ich schaue hinein und sehe mich auf den Kopf gespiegelt. Anish Kapoor, der indisch-britische Bildhauer, gehört zu den erfolgreichsten zeitgenössischen Künstlern und gewann bereits den renommierten Turner Prize für zeitgenössische Kunst, der von der Tate in London verliehen wird. Seine riesigen Skulpturen stehen in einigen Großstädten dieser Welt.

Nach ungefähr 20 Minuten werden wir mit Handzeichen aufgefordert, langsam als Gruppe die Treppe zum Obergeschoss hochzugehen. Schade, ich wäre gerne noch länger hier unten geblieben.
Im Obergeschoss
Im Obergeschoss sind weitere antike asiatische Möbel und zeitgenössische Fotografien zu sehen. Fast bin ich enttäuscht, dass es nicht neue ungeheuerliche Zusammenstellungen gibt. Erneut schaue ich mir ein Foto von Araki an, auf dem sich eine Frau die Vulva und den Anus mit den Händen aufreißt, um den Betrachter*innen mehr von sich zu zeigen. Glücklicherweise steht davor ein antiker Stuhl auf einem Podest und verhindert ein allzu nahes Herangehen an das Bild.
Eine weitere Fotografie an einer Säule ordnet mein Geist automatisch erneut als pornografisch ein, als ich entdecke, dass es sich um einen aufgeschnittenen Apfel handelt. Die rundliche Form des Apfels mit dem dunklen Gehäuse in seiner Mitte erinnert mich sofort an die Frauenkörperteile, die Araki immer so explizit ablichtet. Reingefallen, dachte ich – aber Arakis Foto hat es auch darauf angelegt, da bin ich mir sicher. Erst bei der Recherche zu diesem Artikel komme ich darauf, dass bei diesem Foto auch der Japaner auf den Auslöser gedrückt hat.

Am Ende des Rundganges gehen wir in den sogenannten ‚Silk Room‘, der mit riesigen Seidenvorhängen von der übrigen Fläche abgetrennt ist. Kleinteilige Exponate aus Keramik sind auf einzelnen Sockeln in Vitrinen angeordnet. Die Arbeiten des britischen Künstlers Edmund de Waal sind irgendwie schön anzuschauen, aber ich kann gerade nicht so viel mit ihnen anfangen. Und dann ist auch schon alles vorbei. Keine Stunde hat die Führung gedauert und doch waren die Eindrücke so immens.
Fazit
Désiré Feuerle, der hinter der außergewöhnlichen Sammlung steckt, hat eine ganz besondere Aura in den Bunker gezaubert. Sowohl der ‚Lake Room‘ als auch die Einstimmung im ‚Sound Room‘ haben mich inspiriert. Der Gegensatz – oft wird es Dialog genannt, ich empfinde das hier aber gar nicht so – zwischen der Fotografie und den antiken Möbeln lässt die Jahrhunderte spüren, die dazwischen liegen. Der Gegensatz zwischen dem Minimalismus der Architektur und den üppigen Fotos und üppig verzierten Gottheiten der Khmer sowie den ausgeschmückten Details der chinesischen Möbel ist echt krass. Tradition und Moderne so nah beieinander, umfangen vom Dämmerlicht im Bunker – ein furioses Erlebnis auf das ich mich gerne eingelassen habe.

Feuerle Collection in Berlin – britta kadolsky
Noch mehr Kunst im Bunker in Berlin: Boros Bunker
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