Künstler*innenkollektive boomen gerade in der Kunstwelt. Hat das Ego des Künstlergenies langsam ausgedient? Warum gerade jetzt? Klar ist: die Gesellschaft befindet sich im Wandel. Egotrips werden zunehmend als überholt und unpassend empfunden. Teamwork steht, nicht nur in der wirtschaftlichen Arbeitswelt, hoch im Kurs. Die meisten Kollektive gibt es schon viele Jahre, sie werden jedoch erst jetzt deutlicher wahrgenommen – nicht zuletzt wegen der kommenden documenta – dazu gleich mehr.
Was sind Kollektive? Während Künstler*innen zumeist als Einzelkämpfer*innen auftreten, gab es auch in der Vergangenheit schon immer Künstlergruppen, die am gemeinsamen Arbeiten interessiert waren. Die gegenseitige Neugier und Inspiration, verbunden mit dem Wunsch, gemeinsam den tradierten und akademischen Ansätzen etwas Avantgardistisches entgegenzusetzen, brachte viele Kunstschaffende zusammen.
In den früheren Gruppen waren allerdings meistens die einzelnen Künstler*innen auch bekannt und sogar berühmt. So z.B.: Nouveau Réalisme mit Andre Breton, Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely, oder Die Brücke mit Franz Marc, Vasily Kandinsky, Gabriele Münter und Paul Klee.
Dagegen bestehen die Künstler*innenkollektive meistens aus einer Gruppe anonymer Personen: Kein Individuum will sich besonders hervortun. Ihre Kunst ist politisch motiviert und setzt sich für den gesellschaftlichen Wandel ein.
Einige der einflussreichen Künstler*innenkollektive stelle ich hier nun vor:
Ruangrupa – documenta fifteen
Das im Moment am häufigsten genannte Künstler*innenkollektiv ist sicher ruangrupa, das die künstlerische Leitung für die documenta fifteen (18. Juni bis 25. September 2022 in Kassel) übernimmt.
Die 10 indonesischen Frauen und Männer stammen aus Jakarta und haben ein ganz anderes Verständnis von Kunst als es bisher in Europa oder der westlichen Welt Tradition war. Nicht das Meisterwerk ist das entscheidende Resultat, sondern ein gemeinschaftliches Miteinander in allen Lebenslagen.
Auf der Webseite der documenta werden ruangrupa kurz folgendermaßen beschrieben: „Das Künstler*innenkollektiv aus Jakarta hat ihrer documenta fifteen die Werte und Ideen von lumbung (indonesischer Begriff für eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune) zugrunde gelegt. Als künstlerisches und ökonomisches Modell fußt lumbung auf Grundsätzen wie Kollektivität, gemeinschaftlichem Ressourcenaufbau und gerechter Verteilung und verwirklicht sich in allen Bereichen der Zusammenarbeit und Ausstellungskonzeption.“
Worum geht es also? Werte wie Gemeinschaft, gerechte Verteilung, Heilung, Genügsamkeit und Humor sollen im Vordergrund stehen. Insgesamt ist der soziale Aspekt bedeutsam. Prozesse sind wichtiger als das Ergebnis. Es wird Workshops geben, in denen gemeinsam gearbeitet und diskutiert wird. Insgesamt ein radikaler Angriff auf die bestehenden Machtverhältnisse in der Kunstwelt. Es geht nicht mehr um das Individuum, vielmehr um Gemeinschaft. Immer!
Ob es für die Besucher*innen der documenta dann genug an Kunst zu bestaunen geben wird, bleibt abzuwarten. Vielleicht wird der ästhetische Aspekt ganz in den Hintergrund rutschen.
Auf dieser documenta wird also einiges anders: Keine einzelne Person mit Starruhm für die Leitung, sondern eben ein Kollektiv mit flachen Hierarchien. Und das sieht für die Teilnahme weitere Künstler*innenkollektive vor. Es sind keine ‚großen Namen‘ eingeladen worden.
Die Liste der teilnehmenden Kunstschaffenden wurde übrigens in der Obdachlosenzeitung Asphalt, und nicht wie bisher immer in großen Kunstmagazinen, veröffentlicht: Ein Novum! Und bereits eine der ersten Inszenierungen, die einen Vorgeschmack auf die diesjährigen 100-Tage-Kunstschau in Kassel geben.
Guerrilla Girls
Die Guerrilla Girls sind die weiblichen Ikonen des Kollektivs in der Kunst. Die Gruppe kommt aus New York und prangert seit über 35 Jahren den Kunstbetrieb und seine Machtstrukturen an. Dabei kritisiert die feministische Künstlerinnengruppe vor allem ‚den weißen Mann‘, der in der bildenden Kunst bisher das Maß aller Dinge ist. Mit Sätzen wie: ’Müssen Frauen nackt sein, um ins Museum zu kommen?‘ machen sie darauf aufmerksam, dass die meisten in Museen gezeigten Kunstwerke von Männern sind. Und an den Wänden hängen nackte Frauen.
Das Markenzeichen der Guerrilla Girls bei ihren Performances sind die Gorillamasken auf dem Kopf. Die Künstlerinnen sind nicht als Individuum erkennbar. Selbstironisch begleiten sie ihre Auftritte mit Bananen und es gelingt ihnen, neben der politischen Botschaft, eine entspannte und muntere Atmosphäre zu kreieren. Die lässt ihr Publikum die Kritik besser aufnehmen, haben sie festgestellt. Sie engagieren sich dabei lautstark für Gleichberechtigung. Frauen, People of Color, Behinderte und LGBTQ-Menschen sollen in der Kunst, wie im Leben, gleichberechtigt sein, so ihre Message. Auf ihren Plakaten beschreiben knappe Sätze und Statistiken, untermauert mit Prozentangaben, die ungerechte Situation. Zum Beispiel, dass die Anzahl der Frauen oder PoC in den Museen, Galerien und Kunstkritiken bei unter 10% lag. (Das war Ende des 20 Jahrhunderts, mittlerweile sehen die Zahlen etwas besser aus.)
Seit der Gründung der Gruppe waren schon über 50 Künstlerinnen beteiligt und ihre Fotos und Collagen sind mittlerweile auch in den großen Museen angekommen.
raumlabor – goldener Löwe in Venedig
Das Architekt*innenkollektiv raumlaborberlin gewann überraschend im letzten Jahr den goldenen Löwen auf der Architekturbiennale in Venedig (Hier mein Artikel über die Biennale 2021). Das bereits 1999 gegründete Kollektiv geht an unbeliebte oder fast vergessene Orte, um diese wiederzubeleben und für die Menschen attraktiv zu gestalten. Dabei achten sie auf sozial verträgliche Realisierungen.
Die beiden Projekte in Venedig – Floating University und Haus der Statistik – wurden 2018 in Berlin begonnen.
Die Floating University ist die Bebauung eines Biotops am Rande des Berliner Flughafens Berlin Tempelhof. Hier schufen Studierende von verschiedenen europäischen Hochschulen gemeinsam mit raumlaborberlin temporäre Bauten, die auf Pfählen über dem Wasser schweben. In dieser ‚Universität‘ wurde einen Sommer lang diskutiert, wie Stadtplanung und Zusammenleben in Zukunft aussehen sollte. Tatsächlich wurde inhaltlich bereits genau das besprochen, was der Titel der Biennale 2021 ‚How will we live together‘ thematisierte. Der bis dahin übersehene Ort in Berlin wurde so angeeignet und bespielt: Eine Kritik am kapitalistischen Wertemodell! Der Erfolg führte dazu, dass mittlerweile ein Verein die Bauten betreut und weiterhin soziale Projekte darin stattfinden können
Bei dem Modellprojekt Haus der Statistik wird ein ehemaliger DDR-Verwaltungskomplex am Potsdamer Platz umgenutzt, der bereits seit 2008 leer steht. Er sollte abgerissen werden. Durch eine Initiative mit Beteiligung von raumlaborberlin wird die Bausubstanz erhalten. In neu zu schaffenden ‚Experimentierhäusern‘ soll soziales und kulturelles Miteinander entstehen: Kitas, Ateliers, Mitmach-Werkstätten und bezahlbarer Wohnraum.
Übrigens: in Frankfurt realisierte raumlaborberlin u.a. zwei temporäre Spielorte für das Künstler*innenhaus Mousonturm, darunter den Sommerbau am Kaiserlei.
Kollektive gewinnen Turner Prize der Tate
Der Turner Pize der Tate ging in den vergangenen Jahren bereits mehrfach an Kollektive. Der bedeutendste Preis für zeitgenössische Kunst in Großbritannien wird seit 1984 an britische Künstler*innen unter 50 Jahren verliehen und ist mit 25.000 £ dotiert.
2015 wurde erstmalig ein Kollektiv geehrt: Assemble, eine Londoner Gruppe aus 18 jungen Architekt*innen, Designer*innen und Künstler*innen. Ihr Projekt Granby Four Streets, ein heruntergekommenes Sozialbau-Quartier in Liverpool, wurde in Kooperation mit der Nachbarschaft renoviert. Das Kollektiv und die in den Häusern lebenden Menschen arbeiteten handwerklich und künstlerisch zusammen. Jeden Mittag wurde gemeinsam gekocht und gegessen, was die Gemeinschaft dieses sozialen Projektes zusätzlich förderte. Die Mitglieder des Kollektives sind alle anonym geblieben: die Gruppe zählt, nicht der Einzelne.
2019 fällte die Jury eine ungewöhnliche Entscheidung: Die vier nominierten Künstler*innen -Lawrence Abu Hamdan, Helen Cammock, Oscar Murillo und Tai Shani – baten darum, keinen einzelnen Gewinner zu küren. Sie wollten ein Zeichen setzen und vereinigten sich im Namen der „Solidarität, Gemeinschaft und Vielseitigkeit in der Kunst und in der Gesellschaft“ zu einem Künstlerkollektiv. Tatsächlich zeichnete sie die Jury aus.
2020 gab es, pandemiebedingt, keine Preisvergabe. Der Betrag wurde an Künstler*innen gestiftet.
2021 gewann erneut ein Künstler*innenkollektiv: Array Collective. Die nordirische Gruppe besteht aus elf Frauen und Männern und ist in Belfast ansässig. Alle Künstler*innen haben auch eigene Kunstprojekte, arbeiten jedoch oft zusammen. Mit bunten Kostümen und viel humorvoller Performance setzt sich die Gruppe für soziale Themen ein. Auch hier stehen Gleichberechtigung, Feminismus und die Rechte der LGTBQ-Gemeinde im Zentrum der Aktivitäten. Außerdem wird gegen den religiösen Eifer in der Region demonstriert.
Prämiert wurde ihre Arbeit The Druihaib’s Ball: Ein nachgebauter Pub mit unzähligen Bannern und Transparenten von den Protesten und Demonstrationen auf den Straßen. Dazu gehören der Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken, aber auch Demonstrationen für ein Abtreibungsrecht, die Rechte von Homosexuellen, Sozialfürsorgen, für die irische Sprache und gegen die britische Kolonialisierungspolitik.
2021 waren für den Turner Preis übrigens ausschließlich Kollektive nominiert – ein grundlegendes Umdenken in der Kunst?!
Fazit: Mittlerweile erhalten zeitgenössische Kollektive immer größere Aufmerksamkeit, zunehmend gewinnen sie Preise und Renommée und verändern so die Kunstwelt.
Kollektive erobern die Kunstwelt: ruangrupa, documenta 15, Guerrilla Girls – britta kadolsky