Neue Kunst in alten Gemäuern
Ruth Fühner
Spuren der Geschichte
Wie Britta treibt auch mich die Frage um, was der Reiz ist an der in den letzten Jahrzehnten aufgekommenen Mode, ehemals anders genutzte Räume (Schlösser, Zechen, Bunker) für Gegenwartskunst zu nutzen. Ein Grund liegt auf der Hand: es ist gerade das Nicht-Gegenwärtige an ihnen, ihre spürbare Geschichtlichkeit.
Mit meinen Eltern bin ich Anfang der 60er Jahre aus einem Altbau in einen für die Umstände fast schon avantgardistischen Neubau gezogen. Einen weißen Kasten, ohne Schnickschnack. Und mit Flachdach. Also ohne Speicher. Ohne Raum für die Vergangenheit, für alte Koffer und verstaubte Kisten, Spinnweben, Krempel und Zeugnisse der Familiengeschichte, die der Entdeckung durch kindliche Neugier geharrt hätten. Heute kommt mir das vor wie ein Deckbild für jenen doppelten Verlust, den die Generation meiner (relativ alten) Eltern erlebt hatte: ganz materiell durch die Bombardierung ihrer Heimat – und geistig im Sinn jener „Unfähigkeit zu trauern“, die Alexander Mitscherlich der Nachkriegsgesellschaft attestierte.
Der White Cube als Museumsideal?

Vielleicht ist der White Cube ein ähnlicher, (un-)bewusst geschichtsloser Ort. Zwar entstand das Konzept schon in den 20er Jahren, auch als berechtigte Wendung gegen die überkommene, plüschige Repräsentationskultur traditioneller Museumsbauten. Als Museums-Ideal aber setzte er sich so richtig nach dem Zweiten Weltkrieg durch. Parallel dazu praktizierte Werner Haftmann bei den ersten Documenta-Ausstellungen in Kassel eine ganz besondere Art von Geschichtsvergessenheit: wie man erst vor kurzem erfuhr, schloss er offenbar bewusst jüdische Künstler aus seiner Konzeption aus (Julia Voss hat dargelegt, dass im Nationalsozialismus „jüdisch“ ein tödlicheres Etikett für Künstler war als ein „entarteter“ Stil). Die Abstraktion, das scheinbar Allgemein Menschliche stand nach 1945 im Vordergrund; den Schrecken der konkreten historischen Erfahrung und Erinnerung ging man lieber aus dem Weg.
Längst ist der White Cube selbst historisch und fragwürdig geworden: „Kritische Künstler und Theoretiker sehen den White Cube als Mittel, um Kunst durch Ästhetisierung aus dem Kontext zu reißen und dadurch in ihrer (gesellschaftlichen) Wirkung zu neutralisieren“ heißt es bei Wikipedia.
Umnutzung alter Gemäuer mit Geschichte

Ob allerdings die Mode, Kunst in „fremden“, sozusagen in Second-Hand-Architekturen zu präsentieren, den kritischen Kontext (wieder) herstellt? Einen zusätzlichen Schau-Wert bringt sie auf jeden Fall, manchmal einen so starken, dass die ausgestellte Kunst es schwer hat, sich dagegen zu behaupten. Aber worin genau besteht dieser Schau-Wert? Ich behaupte (der Kalauer sei erlaubt): es hat was mit dem Schauder zu tun. Mit dem Schauder einer plötzlich gegenwärtig erscheinenden Vergangenheit, die es in vielen Fällen durchaus wert ist, dass sie vergangen ist. Selbst wenn sie mitunter von einem überraschenden Empfinden für Erhabenheit und Schönheit kündet. Wer einmal die großartigen Räume der Zeche Zollverein erlebt hat, weiß, wovon ich spreche. Und doch schwingt bei diesem Erlebnis auch die Erinnerung mit an die knochenbrecherische, krankmachende Schufterei, die hier geleistet wurde. An Ausbeutung, Arbeitslosigkeit, verrußte Himmel. Im besten Fall laden diese Schwingungen die präsentierte Gegenwartskunst auf mit neuen Bedeutungen, Gefühlsvaleurs.
Castello di Rivoli
Im Berliner Boros-Bunker kommt der Anflug von Gänsehaut von der Erinnerung an die Nächte unterm Bombenhagel, ausgelöst von deutschem Größenwahn.

Und das Castello di Rivoli? Das Schloss nicht weit von Turin wurde nie vollendet. Seinen Höhepunkt erlebte es im 17. Und 18. Jhd. als prunkvolle Residenz der Savoyer, von da an gings mehr oder weniger konsequent bergab. Und genau das ist vielleicht sein Glück. Schlösser wie Versailles oder Sanssouci langweilen mich. Mehr als das: Ihr glanzvoll erhaltener Zustand lässt mich nur umso stärker empfinden, auf wessen Rücken und zu welchem Zweck dieser Prunk erschaffen wurde. Anders dieses Schloss, das seit 1984 Museum für Gegenwartskunst und seither Teil des UNESCO-Weltkulturerbes ist.
„Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein,“ schreibt Walter Benjamin. Genau diese Doppelgesichtigkeit ist es, die die Restauratoren von Rivoli bewahrt haben. Entschieden und doch sensibel saniert, erzählt das Schloss im heutigen Zustand von einer gebrochenen und geflickten Schönheit. Das beginnt schon mit der Eingangssituation, zwei hintereinander gereihten klassischen dreifachen Torbogen aus Stein, die den Blick in die Landschaft rahmen. Dazwischen hängt hoch oben ein weiterer, fragiler Doppelrahmen aus Stahl, der den Blick nach oben lenkt, ins Leere – und wie eine Klammer zwischen Vergangenheit und Gegenwart wirkt. Es setzt sich fort in der Abfolge der Räume, von denen viele den Charme des Verfalls bewahrt haben und, im besten Fall, der in ihnen heimisch gewordenen Kunst der Gegenwart eine Spur der Vergänglichkeit, der vergeblichen Kämpfe und zärtlicher Schönheit mitgeben. Bis zu jenem allerinnersten Kabinett, das wie eine träumerische Entdeckung nicht ganz von dieser Welt wirkt – als ob er schließlich doch noch hergeflogen wäre, der verlorene Speicherort der Kindheit.
Hier gehts zum Artikel über die Kunst im Castello di Rivoli und hier zum Artikel über die Umnutzung alter Industriebauten zu Museen.
Neue Kunst in alten Gemäuern – Ruth Fühner
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