Ein Gastbeitrag von Tania Beilfuß
Von der Theorie zur Praxis
Willi Reiche hat keine Kunstakademie besucht, war kein Meisterschüler – und behauptet selbstironisch von sich, keinen Stift halten zu können. In Bonn hat Reiche zahlreiche Semester Kunstgeschichte studiert, um dann zu der Erkenntnis zu gelangen: „Das ist mir zu theoretisch, ich will selbst Kunst erschaffen!“ Diesem Wunsch folgte Willi Reiche dann auch stringent als Autodidakt, richtete sich in seinem Haus in Wachtberg Atelier und Werkstatt ein, und ist seit 1982 mit Einzel- und Gruppenausstellungen kontinuierlich in der Öffentlichkeit präsent.
Schon seine Frühwerke sind geprägt von einer Sammelleidenschaft und Faszination für Dinge, die für andere wertlos geworden sein mögen, für Reiche aber ganz besondere Reize aufweisen; durch Patina, Gebrauchsspuren, ästhetische Formen, hochwertige Materialien oder auch eine gewisse Skurrilität, weil sie als anachronistische Relikte „aus der Zeit gefallen“ wirken.
Reiches Kunst war stets dreidimensional, seine kreativen Ideen entwickelt er nicht auf dem Papier, sondern im Kopf. In der Regel trägt Reiche zunächst gezielt die Materialien und Dinge, die er in und zu einem Objekt kombinieren möchte, zusammen. Schon währenddessen nimmt die Grundidee gedanklich zunehmend Form an, bevor die Realisierungsphase beginnt.
Kunst und Kompetenz
Bei diesem Entstehungsprozess kommt es dem Künstler Reiche zugute, dass er sich als junger Hauseigentümer schon frühzeitig die wesentlichen handwerklichen Fähigkeiten angeeignet und diverse Maschinen angeschafft hat. „Kunst kommt von Können“ – was den Umgang mit Holz und Metall und die entsprechenden Verarbeitungstechniken betrifft, so bestätigen Reiches Arbeiten diese Aussage unbedingt. Während Willi Reiche zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn noch besonders viel mit Holz und Leder arbeitete, verlagerte sich seine Vorliebe zunehmend auf Metalle und das Schweißen.
Reiches Handschrift
Bis 1998 waren Reiches Objekte noch statisch. Erst Ende 1998 setzte Reiche sein schon lange Zeit gehegtes Bedürfnis, bewegliche Kunst zu konstruieren, in die Tat um – zunächst mit einer „Hommage“, die optisch und akustisch bewusst an Werke vom „Spiritus Rector“ Jean Tinguely erinnern soll.
Die Konstruktionsmerkmale und das Wesen von Reiches Kunstmaschinen sind heute ganz weit entfernt von diesem kinetischen Einstand, insbesondere die Arbeiten, die sich serieller Elemente bedienen. Doch die Tatsache, dass auch Reiche viel Eisen verwendet und ausgediente Dinge in Bewegung versetzt, scheint beim Publikum offenbar unweigerlich Assoziationen zu dem Schweizer Kinetikkünstler hervorzurufen.
Das ist einerseits ein überaus großes Kompliment, andererseits birgt dieser schmeichelnde Vergleich die Problematik, sich aus dem vermeintlichen „Fahrwasser“ Tinguelys herausbewegen zu können. Denn eine gewisse Seelenverwandtschaft ist nicht von der Hand zu weisen und in dem über Jahrzehnte zusammengetragenen Fundus von Willi Reiche tauchen Räder und andere Bestandteile auf, die auch andere Kinetiker vor ihm gerne verwendet haben. Sie aber deswegen nicht zu verwerten wäre ja überspitzt geradezu so, als sollten Maler besser nicht mehr zur Ölfarbe greifen, um nicht mit Van Gogh in Verbindung gebracht zu werden. Die Zeiten haben sich gewandelt und die spezifische „Handschrift“ von Willi Reiche ist – trotz naturgemäß gegebener Parallelen – eine gänzlich andere.
„Teatime with Dada“
Wer sich auf die Kunstmaschinen des Wachtberger Künstlers Willi Reiche einlässt, erkennt schnell dessen Vorliebe für humorvolle Titel und Wortspiele, skurrile Zusammenstellungen von Dingen und absurde Inszenierungen mit eindeutig dadaistischen Zügen. Vorrangig geht es Reiche darum, Menschen mit seinen Werken zu erfreuen – und das mit einem hohen Anspruch an die Ästhetik. Ganz gleich, ob die Kunstmaschine aus einem Potpourri unterschiedlichster Gegenstände besteht oder einer seriellen Komposition – seine Arbeiten zeichnen sich durch ästhetische Arrangements aus, mal eher verspielt, mal grafisch klar.
Politische Statements stehen bei Reiche nicht im Vordergrund, es liegt ihm nicht, den „moralischen Zeigefinger“ zu erheben. Dennoch verändert Willi Reiche, der seit Anbeginn seiner Künstlerkarriere 1982 konsequent Fundstücke und ausrangierte Gebrauchsgüter in Kunst verwandelt, den Blick auf das Konsumverhalten einer Wegwerfgesellschaft. Seine Kunst bewahrt historische Relikte vor der endgültigen Entsorgung und konserviert so Erinnerungen an vergangene Zeiten. Kritische Anspielungen liegen zunächst im Verborgenen, die teils hintergründige Symbolik erschließt sich erst auf den zweiten – oder dritten Blick.
Zeichen setzen, Zähne zeigen
Anders bei einem kinetischen Kunstwerk, das Reiche auf Anfrage speziell für die Kampagne „Ein T-Shirt zum Leben“ vom FEMNET e. V. erstellt hat: Das „Kinetic T(eeth)-Shirt“ war im Jahr 2022 Bestandteil einer Ausstellung im Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum: „Das Herzstück des Events war die Ausstellung der 19 T-Shirt Kunstwerke bekannter Künstler*innen, wie Vera Lossau, Lilla von Puttkamer, Pipilotti Rist, Frank Schätzing oder Willi Reiche.“
Anlässlich des verheerenden Einsturzes der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch vor nunmehr 10 Jahren initiierte FEMNET e. V. eine „Fairlosung“ von individuellen T-Shirt-Kunstwerken, die „einen Dialog zwischen Näher*innen und Endverbraucher*innen“ aufbauen, Zeichen der Solidarität und Wertschätzung setzen und Stellung beziehen für Nachhaltigkeit und gegen Ausbeutung. So zeigt Reiches Kunstobjekt im wahrsten Sinne des Wortes ganz offensichtlich „Zähne“ – als bissige Metapher für globale Ungerechtigkeiten. „Die Zähne“, so der Künstler Willi Reiche, „symbolisieren die Diskrepanz zwischen denen, die sich mühsam durchbeißen, um überhaupt etwas zwischen die Zähne zu bekommen, und den privilegierten Menschen in reichen Industrienationen, die im Überfluss konsumieren.“ Die geruhsamen Bewegungen des T-Shirts stehen dabei in deutlichem Kontrast zu den hektischen Arbeitsprozessen zur Produktion von „Fast Fashion“.
Klare Kante
Aber auch Reiches Kunstmaschine „Bügelpalast“, die von November 2022 bis Januar 2023 im Dortmunder U, Museum Ostwall, zu sehen war, zeigte im Rahmen der gleichnamigen Ausstellung „Klare Kante!“: Der „Bügelpalast“ (bestehend aus den Mulden ausrangierter Bügelmaschinen und einer Heißmangel) würdigt die Tätigkeit des Bügelns. Die Transformation der Bestandteile setzt stellvertretend ein anerkennendes Denkmal für jede Art von Arbeit und ein Statement für soziale Gerechtigkeit.
In der Regel geht es bei Willi Reiches Kunstmaschinen aber eher heiter und amüsant zu, wenn seine Maschinen mit skurrilen Inszenierungen ausgedientes Material in gänzlich neuem Kontext reaktivieren. Selbst die Thematik „Von der Wiege bis zur Bahre“, die vom 1. April bis 28. Mai 2023 im Glaspavillon Rheinbach (nahe Bonn) zu sehen war, greift ein ernstes Thema mit einer guten Portion Humor auf – wenngleich hier eine leicht sarkastische Note mit hineinspielt.
MAG und KMH
Neben temporären Einzel- und Gruppenausstellungen gibt es zwei Orte, die als Dauereinrichtung die kinetische Kunst von Willi Reiche präsentieren: Im Moving Art Garden in Bonn, kurz MAG, stehen Reiches Werke für den Außenbereich. Die Kunstmaschinenhalle (KMH) oberhalb von Remagen ist ein Schauraum für die Kunstmaschinen, die Reiche für den Innenbereich konzipiert hat. Die Kunstmaschinenhalle und der Skulpturengarten können nach vorheriger Terminvereinbarung besucht werden, bevorzugt sonntags und in selbstorganisierten Gruppen.
Porträt des Kinetik-Künstlers Willi Reiche – Gastbeitrag von Tania Beilfuß