Eine Ausstellung des Ausnahme-Künstlers in der Münchener Kunsthalle
Angefangen hat alles mit heimlichen Nacht-und-Nebel-Aktionen. In den Banlieues von Paris sprayt JR – der französische Streetart-Künstler, damals noch Teenager, seine Graffiti an die Häuserfronten – illegal. Das war in den 90er Jahren.
Nachdem er in der Metro eine Kamera gefunden hatte, fotografierte er seine Freunde beim Sprayen. Die entwickelten Schwarzweiß-Porträts kopierte er auf Papier – so groß es damals ging – und plakatierte sie auf Häuserwände. Um die angekleisterten Fotos herum sprühte er mit Farbe einen Rahmen und versah alles mit der Überschrift: Expo 2 Rue – Straßenausstellung.
Sein Statement dazu zeugt von Selbstbewusstsein: „Ich besitze die größte Galerie der Welt – die Mauern der Stadt!“
Im Laufe der Zeit bekam er die Möglichkeit die Fotos in riesiger Plakatgröße auszudrucken. Als Proteste und begleitende Kämpfe die Banlieues 2005 ins Fernsehen brachten, waren im Hintergrund auch immer JRs Fotos zu sehen. Das Foto, das ihn bekannt machen sollte, zeigt seinen Freund, den aus Mali stammenden Ladj Ly.
Von einem riesigen Plakat, das eine gesamte Wand der Kunsthalle einnimmt, blickt mich Ladj Ly direkt an. Scheinbar mit einer Waffe im Anschlag, zielt er auf mich. Schaurig – bis mir klar wird: Es ist nur eine Videokamera – Entwaffnend! Das Foto machte JR 2004. Übrigens wurde Ladj Ly 2020 mit dem Friedenspreis des Deutschen Films für seinen schonungslosen Film über die Banlieues von Paris ausgezeichnet.
Überlebensgroße Schwarzweiß-Fotos auf Fassaden wurden JRs Markenzeichen – und er wurde immer bekannter. Heute klebt JR monumentale Plakate an Hauswände, auf Eisenbahnwagons, Dächer und Grenzmauern. Er geht in die sozialen Brennpunkte, die Banlieues und Slums dieser Welt und bringt mit seinen überdimensionalen Fotos Menschen zusammen. In der Münchener Kunsthalle erklärt er per Audioguide seine Projekte und berichtet, was jeweils bei den Arbeiten vor Ort geschehen ist.
Brennpunkt israelisch-palästinensische Grenze
Am meisten hat mich sein Projekt im Nahen Osten, an der israelisch-palästinensischen Grenzmauer berührt: Face 2 Face.
Dafür reist er sowohl in die Palästinensergebiete als auch nach Israel und sprach mit den Menschen, die er traf: Taxifahrer, Bäcker, Lehrer, Priester, Rabbis, etc. Auf beiden Seiten suchte er Menschen mit denselben Berufen. Ihre großen schwarzweißen Porträts plakatierte er an die Grenzmauer, die seit Jahrzehnten die Menschen trennt – und zwar auf beiden Seiten der Mauer. Er klebte den israelischen Bäcker neben den palästinensischen Bäcker, die beiden Taxifahrer hängen nebeneinander usw. So entstanden viele Duos.
Im Gespräch mit den Leuten vor Ort wird deutlich, dass die Menschen nicht eindeutig zuordnen können, ob es sich um einen Israeli oder einen Palästinenser handelt – obwohl zuvor alle überzeugt waren, dass man es sofort erkennen könne. Auch waren alle davon überzeugt, dass der Künstler auf der anderen Seite der Mauer niemals plakatieren dürfe. Es wurde jedoch nicht verboten. „Kannst du deinen Bruder von deinem Feind unterscheiden?“ fragt JR. Und die so einfache Moral von der Geschichte ist: Man weiß so wenig voneinander, obwohl man einander so ähnlich ist.
Die Frauen sind die Helden
Das Projekt Women are Heroes hat mich ebenfalls beeindruckt. Seit 2007 reisen JR und sein Team in die Slums von Nairobi, Monrovia, nach Phnom Penh, nach Jaipur und in die Favelas von Rio de Janeiro, und porträtieren Hunderte von Frauen. Seit 2007 fotografierten sie hunderte von Frauen für dieses Projekt. Es ist eine Hommage an die Frauen in den armen Teilen dieser Welt, die oft allein ihre Familien ernähren und härter als Männer arbeiten. Die Aufnahmen betonen nicht ihre Armut, sondern ihren Lebensmut. Die Porträts wurden in den jeweiligen Stadtvierteln, auf die Mauern von Häusern, Kirchen und Moscheen, auf Busse und Züge und in einem Fall sogar auf den Boden eines leeren Schwimmbads plakatiert.
Normalerweise kopiert JR die Gesichter auf große Papierbahnen, die sich, je nach Wetter kaum länger als einen Monat, halten. In Nairobi ließ der Künstler die Porträts auf riesige Vinylplanen drucken, die so als Dachabdeckung für die maroden Hütten dienten und sie wasserdicht machten.
Die Mauer zwischen USA und Mexiko
2017 errichtete JR eine gigantische Fotoinstallation kurz hinter der Grenzmauer zwischen den USA und Mexiko in der mexikanischen Stadt Tecate: Kikito and the Border Patrol.
Kikito ist der kleine Junge, der mit seiner Familie in einem Haus direkt an der Grenze wohnt. Das riesige Plakat klebt auf einem eigens gebauten Gerüst und zeigt Kikito, wie er neugierig über die Grenzmauer zu schauen scheint – die Mauer, die Geflüchtete davon abhält, in die USA zu emigrieren.
Zum Abschluß des Projekts organisierte JR ein Picknick zu beiden Seiten des Grenzzauns. Dafür wurde ein langer Tisch mit den Augen einer illegalen Einwanderin plakatiert. Auf der mexikanischen Seite war der Tisch fest installiert, auf der US-amerikanischen Seite wurde die bedruckte Vinylplane erst kurz vorher ausgebreitet, um drohende Verbote des US-Grenzschutzes im Vorfeld zu vermeiden. Außer der Familie von Kikito kamen viele Menschen rechts und links des Zaunes zu dem gemeinsamen Picknick zusammen. Sie hörten dieselbe Musik und aßen und tranken das gleiche, während sie fröhlich und friedlich zusammensaßen: In zwei Ländern, getrennt durch den riesigen Zaun, aber an einem Tisch.
All diese monumentalen Projekte (und noch viel mehr) beschreibt JR auf dem Audioguide in der Ausstellung mit einer Leichtigkeit, ohne die – sicherlich vorhandenen –zahlreichen Herausforderungen auf dem Weg zur Realisierung zu sehr in den Vordergrund zu stellen – den Kampf um behördliche Genehmigungen, Befindlichkeit der Beteiligten oder die stets drohenden staatlichen Repressalien.
Was kann Kunst
Ungerechtigkeit und Unterdrückung – das prangert JR mit seinen riesengroßen Plakaten an. Seine Aktionen sind jedoch auch geprägt von Zuversicht und hoffnungsvoller Kommunikation. Kann seine Kunst etwas ändern? JR berichtet stolz von der Favela in Brasilien, die er mit den überdimensionalen Augen und Gesichtern der Bewohner*innen beklebte. Weil das Projekt im Fernsehen weltweit gezeigt wurde, fühlte sich die Stadt ein wenig mehr zuständig für die Situation des Armutsviertels: Stromleitungen wurden gezogen und der Müll wurde regelmäßig weggeräumt. Mit seinem Fokus auf bis dato ungesehenene Menschen konnte JR hier im Kleinen eine Verbesserung des Lebensstandards bewirken.
Auch sein Projekt in einem Hochsicherheitsgefängnis in den USA führte zu verbesserten Haftbedingungen.
Das monumentale Bild der aus der Ukraine geflüchteten fünfjährigen Valeria, das von unzähligen Menschen auf Plätzen verschiedener Städte ausgebreitet wird, geht gerade durch die Presse und ziert das Titelbild von TIME.
Wimmelbilder der Bewohner*innen einer Stadt
JRs jüngste Arbeiten sind riesige Wimmelbilder, die aus hunderten einzelnen Portraits zusammen collagiert wurden. Sie sollen zeigen, dass alle Menschen Teil der Gemeinschaft sind. JR verwirklichte diese Projekte bereits in New York, San Francisco und Paris – die wandfüllenden Arbeiten sind alle in München zu sehen.
Um bei seinen Aktionen jedoch nicht erkannt zu werden, schütz sich der französische Street-Art Künstler immer noch, wie damals während seiner illegalen Graffiti-Zeit, mit einem Hut und Sonnenbrille. Dabei ist er, noch keine 40 Jahre alt, mittlerweile weltbekannt.
Die Aufmerksamkeit, die seine riesigen Fotos im öffentlichen Raum auf sich ziehen, will JR nutzen , um die Welt zu verändern. Ja – das klingt pathetisch, aber der Gedanke beseelt mich noch lange, nachdem ich die Ausstellung, beeindruckt und glücklich zugleich, verlassen habe.
JR – der französische Streetart-Künstler – britta kadolsky – 10/22