Spätestens seit es 2019 europäische Kulturhauptstadt war, ist das süditalienische Matera ein Hotspot des Tourismus. Seine zahlreichen, von intimer Frömmigkeit erzählenden Felsenkirchen sind ein ebenso wirksamer Magnet wie die schicken Bars, B&Bs und Restaurants, die in den einst elenden, in den Tuffstein gehauenen Wohnhöhlen entstanden sind.*
Über das offizielle kulturelle Erbe erteilt eine gut gemachte mehrsprachige Broschüre Auskunft. Was darin fehlt, entdecken wir nur durch Zufall an der Ortsausfahrt – den eindrucksvollsten Skulpturenpark, den wir je gesehen haben.
Außer zwei ortsansässigen Hundebesitzern begegnen wir niemandem in diesem aufgelassenen, himmelhohen und abgrundtiefen Kalksteinbruch, in dem der Bildhauer Antonio Paradiso sein Paradies gefunden hat. Das übrigens nicht immer so verlassen ist – in großen Abständen finden hier auch immer wieder Werkstatttreffen mit anderen Künstlern und Symposien statt.
La Palomba heißt das Gelände. Das klingt nach Taube – und tatsächlich geht es hier immer wieder um Vögel und das Fliegen. Bei den paarweise angeordneten riesigen rostroten Stahlskulpturen etwa, die wie Negativ und Positiv wirken – aus den einen sind Vogelsilhouetten ausgeschnitten, die anderen scheinen wie aus ebendiesen Ausschnitten zusammengeschweißt.
Paradisos „Mausoleum für Ikarus“ besteht aus einem winzigen Auto auf hohem Sockel, zerquetscht von einem Felsbrocken. Erinnert ein bisschen an Wolf Vostells Berliner Beton-Cadillacs…
Auf der Marmorfläche von „Grafitto“ treten die Vögel glatt poliert und erhaben aus dem grob behauenen Untergrund hervor. Die Form entsteht nicht durch Hineinkritzeln der Umrisse in die Fläche, sondern die Freilegung unterer Schichten – wie auf einem Weg zurück in geologische Urzeit.
Federleicht und ganz unbeschwert hingegen wirkt dieses Schwarm- Doppel:
Und dann kommt ein Augenblick des Schocks. Von einer Gegenwart, in der der menschenalte Traum vom Fliegen in einen Albtraum mündete, erzählt eine Reihe von Skulpturen, die Paradiso aus einem ganz besonderen Material gefertigt hat.
Arbeiten aus Stahl und Eisen, die Paradiso aus Trümmerteilen von Ground Zero gefertigt hat – als einziger Europäer, der von den US-Behörden dazu die Genehmigung erhielt.
Wenn man das gelesen hat, erscheinen Paradisos früher entstandene Werke, bei aller Rauheit, auf einmal fast unverbindlich. Es ist, als ob mit Katastrophe von 9/11 die Geschichte selbst einen symbolischen Schlusspunkt unter Paradisos Arbeit gesetzt und ihr damit erst richtig Gewicht verliehen hätte.
*Trotzdem muss man nur ein paar wenige Retuschen machen, und es sieht aus wie jenes Jerusalem vor gut 2000 Jahren, in dem auch der Theatermacher Milo Rau seine Passionsgeschichte spielen lassen wollte – aus der dann der Film „Das Neue Evangelium“ über die Ausbeutung afrikanischer Lohnsklaven auf den umliegenden Plantagen der Basilicata wurde.
Himmelhoch und abgrundtief – Paradisos Skulpturenpark in Matera – Ruth Fühner
Lust auf einen weiteren Artikel über einen umwerfenden Skulpturenpark? Hier gehts zur Fondation Gianadda.