Käthe Kollwitz: Kunst als Ausdruck für tiefe Emotionen
Ich mochte die Kunst von Käthe Kollwitz schon immer. Wenn ich in Berlin in der Nähe des Pracht-Boulevards Unter den Linden bin, besuche ich gerne die von Schinkel im Stil des Klassizismus erbaute Neue Wache. Im Innenraum steht seit 1993 die lebensgroße Version der Bronze-Skulptur Mutter mit totem Sohn von 1937-39.
Die Skulptur berührt mich zutiefst – jedes Mal. Sie zeigt Kollwitz selbst mit ihrem toten Sohn Peter der im Ersten Weltkrieg fiel. Die Körperhaltung der Mutter, die ihren erwachsenen, toten Sohn zwischen ihren Knien liegend hält und ihren Kopf über den Kopf des Sohnes hält – das transportiert unglaublich ergreifend die unermessliche Trauer jeder Mutter, die ihr Kind verloren hat. Der lange Körper des jungen Mannes ruht halb in ihrem Schoß und halb auf dem Boden.
Was ich erst jetzt gelernt habe: Helmut Kohl, seinerzeit Bundeskanzler des wiedervereinigten Deutschlands, beschloss damals, ohne Ausschreibung, ohne Abstimmung und ohne Beratung diese vierfache vergrößerte Version von Kollwitz‘ Pietà dort aufstellen zu lassen – als Mahnmal für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Diese Entscheidung löste damals kontroverse Diskussionen aus.
Ich habe mich immens auf die große Kollwitz-Ausstellung im Städel gefreut. Interessanterweise eröffnete wenige Tage nach der Frankfurter Ausstellung auch eine im Museum of Modern Art (MoMA) in New York, und eine weitere wird es ab November in Kopenhagen geben. So wird 2024 zum Kollwitz-Jahr.
Käthe Kollwitz wird oft als die berühmteste deutsche Künstlerin des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Die Formulierung ist groß – wer vermag das schon so genau messen. Aber tatsächlich sind nach keiner Künstlerin so viele Straßen, Wege, Plätze, Schulen, Kieze, Höfe, Siedlungen und eine Promenade, benannt, wie nach ihr. Und: Solche Superlative hat sie eigentlich gar nicht nötig. Wichtiger ist, dass Kollwitz über die einzigartige Fähigkeit verfügte, Emotionen einzufangen; ihre Werke haben eine Kraft, wie ich es sonst noch nicht erlebt habe.
Käthe Kollwitz‘ Weg zur Kunst
Käthe Kollwitz wurde 1867 in Königsberg, Ostpreußen (heute Russland) geboren. Ihre Eltern waren offen und künstlerisch interessiert und unterstützten ihre Tochter in der Entwicklung ihrer künstlerischen Fertigkeiten: Sie erhielt privaten Malunterricht in Königsberg und besuchte in den 1880er Jahren Kunstschulen in Berlin und München.
1891 heiratet sie den Arzt Karl Kollwitz und bewohnte, später zusammen mit den beiden Söhnen Hans und Peter, am Prenzlauer Berg in Berlin eine Vier-Zimmer-Wohnung, die neben der Kassenarzt-Praxis auch das Atelier enthielt. Obwohl es sich für verheiratete bürgerliche Frauen nicht ziemte zu arbeiten, schuf Käthe Kollwitz selbstbestimmt unzählige Kunstwerke. Ihr Werk umfasst hauptsächlich Zeichnungen, Radierungen und Drucke, wenngleich sie Malerei studiert hatte. Die meisten Techniken erlernte sie autodidaktisch.
Die Patienten ihres Mannes lebten in oft prekären großstädtischen Verhältnissen. Sie empfand eine tiefe soziale Verantwortung und starkes Mitgefühl für das Leid der Menschen. Auch ihre Elternschaft prägte Kollwitz‘ Sichtweise auf die Welt und spiegelte sich in ihren Werken wider.
Sie wurde 1919 die erste Professorin an der Akademie der Künste in Berlin und gehörte zum Vorstand der Berliner Secession. Bei einem Aufenthalt in Paris beschäftigte sie sich mit Bildhauerei, sie unternahm eine längere Italien-Reise, steuerte Zeichnungen für die Satirezeitschrift Simplicissimus bei, erhielt erste Aufträge für Plakate und stellte zunehmend aus. Über sechs Jahrzehnte hinweg schuf sie eine beeindruckende Sammlung von politisch und sozial engagierten Werken.
Trotz der Schicksalsschläge – Ihr jüngster Sohn Peter fiel im Ersten Weltkrieg, ihre Kunst wurde von den Nationalsozialisten zunehmend verfemt, immerhin galt sie nicht als entartet, sie musste ihre Professur abgeben, sie wurde schikaniert und ihre Bilder wurden nicht mehr ausgestellt – war sie wohl viel heiterer als man aufgrund ihrer oft von Trauer und Leid geprägten Bilder annimmt.
Die Frau hinter den Linien: Selbstporträts von Käthe Kollwitz
Kollwitz fertigte an die 100 Selbstbildnisse an – in Tusche, Kreide, Kohle, als Tiefdruck, als Hochdruck oder in der Kombination der unterschiedlichen Techniken, und auch als Plastik. Dabei stellte sie sich meistens älter dar, als sie war. Außerdem verweigerte sie sich dem damals gängigen Schönheitsideal: Ihre Haare waren meistens streng nach hinten gebunden und ihre Kleidung war schlicht
Bei den Zeichnungen gefällt mir, wie viele eng nebeneinander gesetzte Striche eine Schattierung formen, eine Frisur andeuten oder den Augen einen besonderen Ausdruck verleihen. Oft fügen grobe, dunkle Pinselstriche mit Tusche einen Schatten im Hintergrund hinzu und lassen das Gesicht leuchten.
Auch das vom Städel gewählte Porträt für das Ausstellungsplakat zeigt diese Technik: Auf dem Selbstbildnis mit aufgestütztem Kopf, das sie mit Anfang 20 zeichnete, blickt die junge Frau schmollend und selbstbewusst aus dem Blatt heraus. Die Augen, die Nase, sowie die Konturen des Gesichts und die rechte Hand sind mit eng nebeneinander gesetzten dünnen, aber kräftigen Federstrichen plastisch herausgearbeitet. Sepiafarbene Tusche modelliert den Hintergrund für das Gesicht und hebt insbesondere die Hand besonders hervor.
Gesten der Empathie: Käthe Kollwitz und ihre Hände
Und die Hände! Sie zeichnet gerne Hände: Oft sind sie besonders groß und immer gelungen in ihren Perspektiven und Verkürzungen. Die Hände vermitteln ihre eigenen Botschaften des Kontakts: Beschützen, Stützen, Halten, Fordern, Berühren, Beten. Geborgenheit und Liebe drücken sie dabei meistens aus. Manchmal verdeutlichen sie jedoch auch Leid und Gefahr – fast immer jedenfalls Emotionen. Die Hände zeigen, wie wichtig zwischenmenschliche Beziehungen sind.
Ein Weberaufstand
Selbstverständlich muss ich auch den Bilderzyklus Ein Weberaufstand erwähnen, der für Kollwitz den künstlerischen Durchbruch brachte. 1893 besuchte sie die Premiere von Gerhart Hauptmanns umstrittenem Drama Die Weber im Neuen Theater Berlin. Die Aufführung war ein Sensationserfolg und beeindruckte auch Käthe Kollwitz zutiefst. Sie begann noch im selben Jahr mit ihrer Arbeit und stellte in drei Radierungen und drei Lithografien eine fiktive Revolte der Gegenwart dar. Sie verzichtete bewusst auf historische Stilisierung und zeigte die Weber in moderner Arbeitskleidung, um aktuelle soziale Probleme zu verdeutlichen. Das provozierte die Obrigkeit vor allem aber den Kaiser. Prompt verweigerte Wilhelm II Kollwitz 1898 eine Medaille, die Max Liebermann ihr verleihen wollte. Für den Kaiser war die Kunst von Kollwitz lediglich ‚Rinnsteinkunst‘.
Bauernkrieg: Kollwitz‘ Frühwerk
Auch dieser Zyklus ist bemerkenswert und erschreckend: Wieder sehen wir das Leid und Elend der Menschen. Kollwitz zeigt die Verzweiflung der hart arbeitenden, armen Bauern als Ursache für den Aufstand und verfolgt, wie sie sich im Verlauf der Zeit gruppieren und bewaffnet losziehen. Auch hier sind die erhobenen Hände der Rückenfigur ein starkes Symbol. Und die unterschiedlichen Gesichtsausdrücke zeigen, trotz der wenigen Striche, die aufgeputschten Emotionen.
Kollwitz zeigt nicht den eigentlichen, blutigen Kampf, wie es vermutlich männliche Kollegen getan hätten. Ihr Zyklus, an dem sie sieben Jahre arbeitete, endet mit dem Zusammenbruch der Revolte und der Darstellung der Toten und Gefangenen. Die Komposition der dicht zusammengedrängten Gefangenen ist blattfüllend – fast scheint das Papier die Menschen zusätzlich zu dem sie umspannenden Seil einzusperren. Die Köpfe enden alle auf annähernd gleicher Höhe. So verdichtet sich die zusammengepferchte Menschenmasse zu einem beklemmenden Klumpen.
Auch das Blatt Vergewaltigt zeigt nicht das grauenvolle Verbrechen an sich, sondern den leblosen, zurückgelassenen Frauenkörper im Wald. Das brutale Grauen der Tat spielt sich in meinem Kopf ab.
Die zentralen Themen: Mutter-Kind, Krieg und Tod
Vor dem Bild Tod und Frau bin ich zu Tränen gerührt – und das passiert mir wirklich selten bei der Kunstbetrachtung. Die Darstellung von 1910 – also noch vor dem Tod ihres Sohnes – hat eine enorme emotionale Wucht und Kraft. Auf den ersten Blick wirkt das Knäuel von Menschen wie ein moderner Ausdruckstanz. Aber schnell erkenne ich in der Mitte eine nackte, verzweifelte Frau, die ihren Körper in einer expressiven Geste aufbäumt. Von hinten packt sie der Tod in Gestalt eines Skeletts. Ein schwarzer Schatten hinterfängt seine Figur. Auf der rechten Bildhälfte klammert sich ein kleines Kind an die Frau und versucht, an ihr hinaufzuklettern. Vergebens: Der Tod hat sie fest im Griff.
Die Lithografie Tod packt eine Frau von 1934 behandelt dasselbe Thema, allerdings komponierte Kollwitz die Gruppe neu: Die drei Figuren sind in der Höhe hintereinander gestaffelt. Auch hier hat der Tod die Frau bereits fest im Griff und ihre Verzweiflung zeigt sich durch das entsetzte Gesicht. Jedoch umfängt die Mutter das Kind mit beiden Armen und Händen, um es vor dem Tod zu schützen. Obwohl Kollwitz die Figuren nur mit groben Strichen gezeichnet hat, ist die Dynamik fühlbar.
Im Zyklus über den Tod ihres Sohnes Peter im Ersten Weltkrieg drückte Käthe Kollwitz ihren Schmerz und das Trauma des Krieges aus. Sie fand, dass ihre bisherige Zeichen- und Druck-Techniken nicht stark genug waren, und entdeckte den Holzschnitt mit seinen harten Linien als passendes Verfahren. Selbstständig lernte sie diese Technik. Auch in dieser Serie dominiert der Schmerz der Frau, die ihr Kind verloren hat. Die Figuren zeigen mit ihren ausdrucksstarken Körperhaltungen Kollwitz‘ Lust an expressiven und experimentellen Kompositionen.
Am meisten spricht mich Die Mütter an: Eine eng aneinander gedrängte Frauengruppe steht, sich haltend und umarmend wie ein Block um ihre kleinen Kinder, die an einigen Stellen in der Mitte der dunklen Formation herausschauen. Fünfzehn Jahre später entwickelte Kollwitz aus diesem Thema die Bronzeskulptur Turm der Mütter. Fasziniert gehe ich um die Plastik herum und staune über die eindrucksvolle Kraft der Frauen, die mir ihren Armen die Gruppe schützend umfangen, sich teilweise fast aneinanderklammern. Jede Frau in einer anderen Körperhaltung und alle mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck.
Plakate: Kollwitz‘ politische Haltung
Kollwitz erstellte Plakate als Auftragsarbeiten, allerdings nur, wenn sie inhaltlich mit dem Thema einverstanden war. Sie gehörte nie einer Partei an, fühlte sich jedoch am ehesten von sozialdemokratischen Ideen angezogen. Sie war, spätestens seit dem Tod ihres Sohnes, überzeugte Pazifistin. Eines ihrer bekanntesten Plakate entwarf sie für den Mitteldeutschen Jugendtag der Sozialistischen Arbeiter-Jugend 1924: Nie wieder Krieg. Die Abbildung zeigt einen jungen Menschen, der inbrünstig seinen Arm zum Schwur hochstreckt. Der Schriftzug Nie wieder Krieg prangt rechts und links des Armes in Schreibschrift. Das Motiv hat es sogar bis auf eine Briefmarke geschafft und wurde zur Ikone der deutschen Friedensbewegung der 1970er und 80er Jahre.
Viele Plakate in den 1920er Jahren handeln vom Hunger der Kinder und wurden von einer Hilfsorganisation, die der KPD nahestand, beauftragt. Kollwitz sprach sich auch für das Recht der Frauen auf Abtreibung aus. Alle ihre Plakate und auch die Beiträge zum Simplicissimus sprachen sich gegen soziale Ungerechtigkeit aus.
Politische Vereinnahmung von Ost und West
Kollwitz starb in großer Einsamkeit am 22. April 1945 in Moritzburg bei Dresden, kurz vor Ende der Nazi-Jahre, die sie aller Ehre und Öffentlichkeit beraubt hatten. Die DDR lies Kollwitz als stramme Kommunistin (die sie nie war) wiederauferstehen und feierte ihre Kunst als Vorläufer des sozialistischen Realismus. Gustav Seitz baute ihr ein Denkmal, das in Berlin am Prenzlauer Berg auf dem nach ihr benannten Platz steht.
In der BRD, mit ihrer ‚modernen, westlichen und abstrakten‘ Nachkriegskunst, konnte Kollwitz künstlerisch zunächst nicht so gut „einsortiert“ werden. Unbestritten war jedoch von Anfang an ihr Rang als Künstlerin und Humanistin. Große Popularität wurde ihr schließlich durch die Friedensbewegung zuteil.
Fazit
Es gäbe so viel mehr über die grandiose Künstlerin und ihre intensiven Werke zu schreiben, aber der Artikel ist bereits lang genug. Daher spreche ich eine absolute Besuchs-Empfehlung für die Ausstellung im Städel, oder (wer es schafft) im MoMA in New York aus. Die Kollwitz-Museen in Berlin und Köln (ab Herbst 2024) sind außerdem immer einen Besuch wert! Und das in Moritzburg sicher auch.
Wer mehr über Käthe Kollwitz HÖREN möchte, dem empfehle ich den Podcast KUNST & KNACKIG von Saskia und mir: Käthe Kollwitz: Kunst als Ausdruck für tiefe Emotionen bei spotify oder bei Apple Podcasts
Käthe Kollwitz: Kunst als Ausdruck für tiefe Emotionen – britta kadolsky