Jeremy Shaw im Frankfurter Kunstverein
britta kadolsky
Hurra – die Museen sind wieder auf
Als erster unterrichtet mich der Frankfurter Kunstverein per E-Mail über die Öffnung. Jeremy Shaw wird im Frankfurter Kunstverein gezeigt. Ich verliere keine Zeit und reserviere direkt Tickets:
Eine riesige Leinwand erwartet uns bereits im Eingangsbereich: Explosionen von farbigen, visuellen Tunnel-Effekten, die uns in den Bildschirm einzusaugen scheinen. Dieses Video konnte auch während der Pandemie bereits von außen durch die Glasfront betrachtet werden.
Schwerpunkt der Ausstellung ist Jeremy Shaws Sieben-Kanal-Videoinstallation, die sich über alle Etagen des Kunstvereins erstrecken. Seine Videoarbeiten sind schillernd bunt oder schwarz-weiß und mit Musik oder rhythmischen Tönen und Sprache unterlegt.
Phase Shifting Index, so der Titel von Shaws umfangreicher Arbeit, thematisiert:
„ […] die menschliche Vorstellung von Transzendenz – […] die aktive Suche danach, auf welchem Weg auch immer. Sei es durch Tanz, Religion, Drogen, Technologie usw. – der menschliche Wunsch, der wahrgenommenen Realität zu entfliehen, und die scheinbare Universalität dieses Phänomens faszinieren mich unendlich.“ *
Auf großen Samsung-Bildwänden zeigt der kanadische Künstler Gruppen von Menschen, die wie berauscht in Ekstase tanzen. Im ersten und im oberen Stockwerk sind jeweils 3 Videos parallel zu sehen und zu hören. Auf ihnen tanzen jeweils unterschiedliche Gruppierungen nach unterschiedlicher Musik. Eine männliche Stimme aus dem Off erklärt, was zu sehen ist, und verleiht den Filmen damit einen dokumentarischen Charakter. Man befindet sich in der Zukunft, die Stimme der Dokumentation beschreibt Vorgänge und die vermeintlich hinter den euphorischen Bewegungen stehenden Kulturen und Praktiken.
*(Zitat: Jeremy Shaw, ausstellungsbegleitende Broschüre, Seite 1)
Quantum Moderns, ein Schwarz-Weiß-Film mit knisternder Optik und Sound der 1960er Jahre zeigt Balletttänzer in einem Übungsraum. Zero-Ones tanzende junge Erwachsene, deren abgehackte Roboterbewegungen an Michael Jackson erinnern. Auf dem 3. Bildschirm, Reclaimers, tanzt sich eine esoterisch anmutende Gruppe von Menschen in einer Mischung aus religiöser Trance und wildem ‚free-style‘ in Ekstase.
Alle 3 Videos laufen gleichzeitig und die Musik sowie die Stimmen überlagern sich im Raum. Etwas hilflos versuchen wir herauszufinden, ob man sich auf jeden Film einzeln fokussieren sollte und sind leicht verstört ob der dokumentarischen Stimme, die von ‚Zero-Ones‘ spricht, die sich mit einer Dosis Maschinen-DNA vermischt hätten, um die mechanischen Bewegungen auszulösen. Diese werden immer heftiger, so wie auch die beiden tanzenden Ballettpaare sich immer expressiver drehen und umherwirbeln. Auch die Gruppe der spirituellen Personen steigert sich, immer schnellerer werdend, in Richtung Erleuchtung. Die Haare fliegen, die Extremitäten fliegen: Der Höhepunkt.
Die bisher unabhängigen Videos amalgamieren, unversehens werden alle Installationen im Raum mit einem einzigen Sound verknüpft, stroboskopähnliches Licht erfüllt den Raum, die Menschen bewegen sich in Slow-motion und vor allem: die Bewegungen aller Tanzenden auf den 3 Schirmen synchronisieren sich, werden zu einer gemeinsamen Bewegung.
Faszinierend ist das, ich bin mitgerissen.
Plötzlich jedoch eine erneute Wendung: Auf allen Bildwänden findet eine digitale Auflösung der Figuren statt, unterstützt mit grellen Neonfarben. Während der Transformation, bei der die Tanzenden zerfließen und ineinander zu verschmelzen scheinen, stören scheinbare technische Probleme: Ein Flimmern und Zucken auf den Displays, gleichzeitig eine grobe Verpixelung. Die digital bearbeiteten Menschen, die sich in ihren Bewegungen aufzulösen scheinen, verwandeln sich in psychedelisch inspirierte Kreaturen. Unterstützt wird das ganze Spektakel von einem mysteriösen dumpfen Sound, der aus dem All stammen könnte. Letztendlich lösen sich alle Darsteller*innen in ein neonfarbiges, feines Gespinst auf. Leise klingen die dumpfen Geräusche langsam ab.
Diese erstaunlichen Effekte, vom Sound unterstützt, verursachen einen gespenstischen Effekt. Man fühlt sich in eine andere Realität versetzt.
Das Verrückte ist: Die Szenen sind alle inszeniert
Die Choreographie der Tanzenden, die jeweilige Kleidung und die unterschiedlichen Filmtechnologien der vergangenen Jahrzehnte. Shaw, der auch Musiker ist, hat alle Sounds für die gesamte Videoinstallation selbst komponiert.
Und tatsächlich: Phase Shifting Index gelingt es, die menschliche Sehnsucht nach Euphorie, ihren Wunsch nach Transzendenz mit Hilfe von Tanz, Rhythmus, Drogen zu versinnbildlichen.
Ein Grund für den Frankfurter Kunstverein Jeremy Shaw zu zeigen: Gast der pandemiebedingt ausgefallenen Buchmessein Frankfurt 2020 sollte Kanada sein. Der seit Jahren in Berlin ansässige Künstler ist in vielen wichtigen Museen der Welt vertreten und wurde auch auf der Biennale in Venedig 2017 gezeigt. Dort wurden die Fotos der spirituell verzückten Menschen in Rahmen aus Prisma-Acrylglas gezeigt, die neben den Videos ebenfalls im Frankfurter Kunstverein zu sehen sind.
Fazit
Die eindringliche Bildgewalt mit viel rhythmischem Tanz zu passenden Soundtracks mit viel Bass und einer grellen Farbigkeit. Die Video-Installationen, die eins in Raum und Zeit werden, wirken noch in mir nach. Und es wird deutlich: Tanzen gehen fehlt!
Unbedingt anschauen!!
Und noch ein Tipp: Die Videos auf jeden Fall von Anfang bis zum Ende schauen, also nicht mittendrin einsteigen oder vor dem Ende den Raum verlassen.
Jeremy Shaw im Frankfurter Kunstverein, Hurra – die Museen sind wieder auf – britta kadolsky
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