Raffaels Engel sind überall
britta kadolsky
Raffaels Engel sind überall.
Die Geschichte des Renaissance-Gemäldes, die ich heute erzähle, begann vor 500 Jahren und erlebt seit etwa 50 Jahren selbst eine unglaubliche Renaissance. Der Fairness halber sollte ich noch ergänzen, dass die neuerliche popkulturelle Aufmerksamkeit sich lediglich auf einen Teil des Bildes bezieht, während die ernsthaften Kunstliebhaber dem ganzen Gemälde ununterbrochen zugetan waren und sind.
Ich bin Anfang September für einen Tag in Dresden und natürlich gehe ich in die Gemäldegalerie Alte Meister im Zwinger und bewundere die Sixtinische Madonna von Raffael. Das Bild ist heute vor allem wegen der unteren 40 cm populär. Dort befinden sich die zwei Putten, die sich so tief in unser aller Bewusstsein eingegraben haben und heute eine popkulturelle Ikone sind: Raffaels Engel.
Allerdings war Raffaels Gemälde bereits 1512, kurz nach der Entstehung, so bekannt, dass Vasari, der Biograf aller wichtigen Renaissancekünstler, schrieb, Raffaels Sixtinische Madonna sei „ein wahrhaft ungewöhnliches und einzigartiges Werk.“
Die Sixtinische Madonna: Ein besonderes Madonnenbild
Das von Papst Julius II. in Auftrag gegebene Altarbild zeigt im Zentrum die in Rot und Blau gewandete Madonna mit dem Jesuskind. Im Gegensatz zu anderen Madonnenbildern stellt Raffael die Muttergottes stehend, nicht sitzend dar. Sie hält den Jungen auf dem Arm und scheint auf der Wolke zu schreiten. Rechts von ihr kniet Papst Sixtus und links die heilige Barbara, deren beider Reliquien in der Klosterkirche San Sisto in Piacenza, dem ersten Ort des Gemäldes, aufbewahrt werden. Sixtus ist denn auch der Namensgeber des Madonnengemäldes. Die Figuren sind in einem Dreieck angeordnet, eine Komposition, die durch den grünen Vorhang noch verstärkt wird. Maria und das Kind blicken ernst aus dem Bild heraus, gerade zum großen Kreuz, das in dem Benediktinerkloster gegenüber vom Hochaltar stand. Der Blick der beiden scheint die düstere Vorahnung des Todes am Kreuz widerzuspiegeln. Im Dresdner Museum ist in der momentanen Ausstellung dieser ursprüngliche Bezug von Gemälde und Standort durch ein im Raum befindliches Kreuz verdeutlicht.
Im Gegensatz zu den unzähligen kleinen Engelsköpfen hinter Marias Haupt, die sich zunächst als Wolken tarnen und erst bei näherem Hinschauen als himmlische Bevölkerung entpuppen, stützen sich die beiden berühmten Putten am unteren Bildrahmen mit den Ellenborgen auf. In ihrer menschlichen Darstellung schauen sie verträumt und unschuldig. Sie stellen eine Verbindung zur irdischen Welt und damit zum Betrachter her. Eine genauere Untersuchung ergab, dass sie erst nachträglich auf die Wolken gemalt wurden, mutmaßlich jedoch ebenfalls von Raffael, der die ‚leere‘ Stelle auf den Wolken kompositorisch verdichten wollte.
Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die putzigen Engelchen dann erstmalig vom Rest des Gemäldes losgelöst und als eigenständiges Motiv verwendet. Seither haben sie eine bemerkenswerte Karriere vom religiösen Altarbild zum populären Medienbild hingelegt und wurden in den 1970er Jahren schließlich zum Marketingphänomen.
Von der Kunst zum Kitsch und zur Werbung
Seit die niedlichen Putten vor 50 Jahren so richtig in Mode kamen, zieren sie unzählige Gegenstände und wurden auch durch die Medien zunehmend bekannter. Die Reproduktionen der zwei Engel garnieren zu Deko-Zwecken Tassen, Teller, Poster, Poesiealben, Keksdosen, Bettwäsche, Mousepads, Pralinenschachteln, Teedosen und Regenschirme – um die harmlosen Dinge zu nennen. Man kann sich außerdem auf Fußmatten die Schuhsohlen auf den Putten abwischen und selbst eine Klobrille wurde mit den beiden geschmückt. Das Motiv hat sich verselbständigt und ist zum Kitsch verkommen.
Warum sind Raffaels Engel eigentlich so beliebt? Zum einen machen sie nichts, außer zu schauen. Im Gegensatz zu den meisten Engelsabbildungen in Renaissancegemälden sind sie untätig: Sie haben keinen Bogen für den Armorpfeil zur Hand und halten keine Wolken, Baldachine oder Throne. Daher können sie für alles benutzt werden, kontextfrei sozusagen. Und zum anderen sehen sie niedlich aus. Dieses rein kindliche und unschuldige Antlitz spricht uns einfach an.
Der linke Engel hat übrigens nur einen Flügel; dies wird bei den Nachahmungen auch fast immer so übernommen.
Ein Magnet für Dresden
Der Kurfürst und Herzog von Sachsen August III. hat das Bild nach langen Verhandlungen kaufen und so nach Dresden holen können. Eine Anekdote erzählt, der sächsische Herrscher habe seinen Thronsessel mit den Worten: „Platz für den großen Raffael“ zur Seite geschoben, um das Gemälde ins richtige Licht zu rücken.
Durch häufige Abbildungen in Publikationen wurde Raffaels Werk ab 1800 immer bekannter. Besucher*innen, die nach Dresden kamen, wollten auch die Madonna sehen. Unzählige Kopisten malten oder zeichneten das Bild ab.
Auch viele Künstler und Literaten priesen das Gemälde. Johann Wolfgang von Goethe war 1775 beim Anblick der Maria von der gemalten Mutterliebe begeistert. Arthur Schopenhauer wird 1820 mit den Worten zitiert: „Sie trägt zur Welt ihn, und er schaut entsetzt“. Die Verehrung des Bildes reichte von Heinrich von Kleist, E.T.A. Hoffmann über August Wilhelm Schlegel bis zu Otto Runge.
Auch Thomas Mann äußerte sich anerkennend: „Mein größtes malerisches Erlebnis ist noch immer die Sixtinische Madonna in Dresden“.
Übrigens eigneten sich auch moderne Künstler in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts Raffaels Motiv an: Salvador Dali, Andy Warhol, Georg Baselitz.
Mittlerweile ist das Kultbild über 500 Jahre alt, und natürlich wurde der runde Geburtstag 2012 in Dresden gebührend gefeiert. Die Werbewirksamkeit der Putten hat sicherlich dazu beigetragen, dass das italienische Renaissance-Gemälde heutzutage von ca. 500.000 Menschen jährlich betrachtet wird.
Eine Kopie des Gemäldes hängt übrigens wieder in der Klosterkirche San Sisto in Piacenza.
Wer mehr über Raffael HÖREN möchte, dem empfehle ich den Podcast KUNST & KNACKIG von Saskia und mir: Die Engel von Raffael sind überall: Die Annäherung an ein Genie bei spotify oder bei Apple Podcasts
Raffaels Engel sind überall.
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