Stephan Balkenhol Zeitfenster
Ruth Fühner
Balkenhol trifft Alte Meister im Museum Wiesbaden
Der Eingangsraum zu Stephan Balkenhols Wiesbadener Treffen mit den Alten Meistern hat acht Ecken – und erzeugt wie so viele Oktogone sofort ein ganz besonderes Körpergefühl. Alles in diesem beinah runden Raum dreht sich um ein etwa doppelt lebensgroßes Baby, das scheinbar noch ganz unfertig aus dem Holz herausgehauen in der Mitte auf dem Boden liegt.

An der Wand hinter ihm eine andere, viel viel ältere Holzfigur: ein schmaler, wunder Körper mit Dornenkrone, die Arme ausgebreitet – ein Gekreuzigter ohne Kreuz aus dem 12. Jahrhundert, geschaffen von einem anonymen Künstler. Ihm gegenüber eine große Holztafel, auf der ein nackter Mann vor der Fotografie einer Hochhausfassade schwebend die Arme ausbreitet. Keine Christusfigur, keine Segnung – eher eine Reminiszenz an die Renaissance und Leonardos Darstellung vom Mensch als Maß aller Dinge. So überlagern sich allein schon in dieser Raum-Achse drei Zeitebenen: das gottesfürchtige Mittelalter, der Aufbruch in die Selbstbestimmung und die schwierige Freiheit der Gegenwart.

In den Nischen des Oktogons hat Balkenhol dem Riesen-Säugling einige seiner kleineren Figuren auf ihren charakteristischen Sockeln zugesellt: eine Wiedergängerin der Venus von Willendorf, einen Mephisto mit Maske, ein mit eher teuflisch als engelsgleich anmutenden Flügeln versehenes Paar, einander gegenüber stehend – Möglichkeiten des Menschlichen, im Guten wie im Bösen.

Vergangenheit trifft Gegenwart – dynamische Perspektiven
Eindrucksvoll bündelt das programmatische Entree die zentralen Fragen der Ausstellung: Was ist geworden aus dem Glauben, der die Kunst einmal untrennbar imprägniert hat? Was tun wir eigentlich, wenn wir ins Museum gehen, wir Alltagsmenschen, was begegnet uns da? Was trennt uns, was verbindet uns mit der Gegenwart früherer Jahrhunderte? Und: was träumen wir? Nicht zu vergessen eine der größten Stärken von Stephan Balkenhol: der Humor.

Ein ganzer Saal ist fantastischen Mischwesen aus Tier und Mensch gewidmet, Bronzen, die ihre Herkunft aus dem Atelier Balkenhol nicht verleugnen können, so sehr wirken ihre Oberflächen wie mit dem Holzbeitel bearbeitet . Es ist, als ob in den Tierköpfen und -leibern so etwas wie der wirkliche Charakter oder das Traumwesen ihrer menschlichen Träger zum Ausdruck käme, das, was sich hinter den allgegenwärtigen weißen Hemden, schwarzen Hosen verbirgt. So lässig der Halblöwe da sitzt – gibt es da nicht doch eine geheime Verwandtschaft mit dem gemalten Fürsten im Hintergrund? Weltherrschaftsphantasien parodiert auch der Mann mit der goldenen Krone auf seinem Stuhl, der dadurch gleich zum Thron wird – oder sein Kollege, der mit einem Globus spielt.
Noch mit einer anderen Art von Korrespondenz spielt die Ausstellung. Viele der Figuren nehmen nämlich eine Mittelstellung ein zwischen den sie umgebenden Werken der Alten Meister und uns, den BesucherInnen: Sie fungieren einerseits als Beobachter, als Publikum, sind also eine Art Doppelgänger von uns – je nach unserer Perspektive aber mischen sie sich selbst auch unter die auf den alten Bildern dargestellten Figuren.

Noch mehr als sonst beim Thema Skulptur kommt es also bei dieser Ausstellung darauf an, ständig die Perspektive zu wechseln. Sich nicht nur auf das einzelne Werk zu konzentrieren, sondern seine Beziehung zu seiner Umgebung mit in den Blick zu nehmen. Wer das tut, wird auch mit einer so reizenden Belebung einer barocken Landschaft belohnt, wie sie diese beiden Spatzen darstellen. Wenn man sie nur verstehen könnte! Ganz sicher haben sie eine ganz eigene Version von dem Geschehen auf dem Bild zu erzählen…

Stephan Balkenhol Zeitfenster. Balkenhol trifft Alte Meister im Museum Wiesbaden. Die Ausstellung geht noch bis zum 2. Juni 2024 – Ruth Fühner
Einer der ersten Artikel auf der Seite Was Kann Kunst, war ein Artikel über Stephan Balkenhol, damals im Lehmbruckmuseum.
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