Die documenta fifteen in Kassel
Noch knapp 3 Wochen läuft sie, die documenta fifteen, die wohl weltweit bedeutendste Kunstschau für zeitgenössische Kunst. Ich habe es endlich geschafft, nach Kassel zu reisen. Meine Erwartungen waren ehrlich gesagt nicht besonders hoch, umso erfreuter war ich, gute Kunst und viel Inspirierendes zu sehen.
Vorweg: Ein Artikel über die documenta fifteen kann nicht ohne die Erwähnung der Diskussionen um die antisemitische Kunst auskommen. Die antisemitischen Bilder und Parolen sind nicht hinnehmbar, genau wie die viel zu späte Reaktion von Leitung und Kuratorenteam. Gründlichere Auseinandersetzungen im Vorfeld und zeitnahe Kommunikation währenddessen wären dringend nötig gewesen. Ich verstehe, dass es eine Gratwanderung zwischen Kritik an Israels Politik und Antisemitismus gibt. Judenfeindliche Bilder und Aussagen sind jedoch überall auf der Welt antisemitisch, und eine besondere Sensibilität gibt es in Deutschland. Aufklärung und Kommunikation, immer wieder, sind vermutlich der einzige Weg antisemitische Äußerungen zu verhindern. Hier und hier ist die bisherige Antisemitismus-Debatte gut beschrieben.
Wirklich schade ist jedoch, dass die soziale Ausrichtung dieser documenta mit ihrem Augenmerk auf gemeinschaftliches Schaffen und nachhaltiges Handeln in dieser Auseinandersetzung untergegangen ist. Also: was gibt es denn nun, jenseits der Debatten um Antisemitismus in der Kunst, Interessantes auf der diesjährigen documenta zu sehen?
Kunst auf der documenta fifteen
Kein Graffiti, sondern ein Manifest – So will Dan Perjovschi aus Rumänien seine Nachrichten auf den schwarz gestrichenen Säulen des Fridericianums verstanden wissen. Und: Humor spielt eine große Rolle in seiner Kunst!
Der rumänische Künstler, der im diktatorischen Regime von Ceausescu aufgewachsen ist, hat die ehemals weißen Säulen des Fridericianum schwarz grundiert und darauf allerlei ironische Sprüche in Comicform aufgebracht, die sich kritisch mit der heutigen Gesellschaft auseinandersetzen.
Zusätzlich hat er humoristische Botschaften auf den Boden vorm Kultur-Bahnhof aufgeschrieben. Manche sind so wahr und so lustig – und dann bleibt mir das Lachen im Halse stecken.
Farbgewaltige Bilder sehe ich im Fridericianum: Małgorzata Mirga-Tas genähte Geschichten der Roma. Von der polnischen Künstlerin, die ebenfalls Roma ist, war ich bereits auf der Biennale in Venedig begeistert. In Kassel sind die Wände nicht allover mit ihren wunderschönen und kollagenartigen Materialmixen und Stickereien bedeckt, sondern hängen brav nebeneinander im Rondell. Trotzdem: Es ist reizvoll die Zusammenstellung der unterschiedlichen Stoffarten mit Perlen, Federn und Pailletten genauer zu betrachten und dabei eine Idee vom Leben der verfolgten Minderheit zu bekommen.
Draußen auf dem Friedrichsplatz hat Richard Bell sein Zelt aufgestellt. Das Schild weist es als ABORIGINAL EMBASSY aus. Der indigene australische Künstler wurde im Alter von acht Jahren mit seiner Familie vertrieben und prangert in seinen Arbeiten den Kolonialismus an.
Auf dem Dach des Fridericianums steht ein Metronom, dass unaufhörlich tickt und die Schulden der australischen Regierung gegenüber den Aborigines anzeigt. Außerdem hängen Bells großformatige Bilder in Pop-Art Manier, die den Protest der indigenen Bevölkerung zeigen, im Fridericianum. Sehr plakativ und farbig.
Das Kollektiv Britto Arts Trust aus Bangladesch hat einen kleinstädtischen Tante-Emma-Laden in der Documenta-Halle aufgebaut.
In den Regalen der begehbaren Installation Rasad liegen Lebensmittel: Blumenkohl, der aus einem Revolver zu kommen scheint, Fische mit raketengleichen Schwanzflossen und Milchpackungen aus Rasierklingen. Alle Objekte sind aus Stoff, Keramik oder Metall. Lebensmittel sind ein entfremdetes Produkt geworden und das Kollektiv prangert die Kommerzialisierung der Lebensmittel durch die Massenproduktion von großen Agrar-Betrieben an.
Außerdem haben die Künstler*innen einen Garten angelegt und laden zum gemeinsamen Ernten, Kochen und Essen ein, insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund sollen ihre Esskulturen und Geschichten mitbringen – ein verbindendes Projekt.
The Nest Collective aus Kenia zeigt eine riesige Installation in der Karlsaue
und sagt: ‚Kümmert euch selbst um euren Müll und überlasst es nicht den Schwarzen, sie zu entsorgen.‘ Enorme Mengen an Altkleidern stapeln sich zu großen Paketen geschnürt, auf der Wiese vor der Orangerie. 40 % der von uns Europäern aussortierten und in den globalen Süden entsorgten Klamotten sind übrigens unbrauchbar. Der Westen macht die dortige Textilindustrie kaputt, entsorgt seinen Müll und macht sich was vor: Die vermeintlich gute Tat ist eigentlich gar kein Recycling.
Der repressive Staat Kuba geht hart mit seinen kritischen Künstler*innen um.
Ein wie ein Wimmelbild inszenierter Raum in der documenta-Halle mit seriellen Werken kubanischer Künstler*innen zeigt unterschiedlichste Aspekte dieser Realität. Das Kollektiv heißt INSTAR. Gut gefallen haben mir die unzähligen, aus kleinen Pappkartons gebastelten Fernseher, die die Propagandabilder aus dem kubanischen Fernsehen zeigen.
Außerdem beeindruckte mich eine riesige Zeichnung: Schulkinder, die sich wie bei einem Ausflug paarweise an der Hand halten. Erst bei genauerem Hinsehen wird klar, warum die realistische Darstellung so verstörend wirkt: Die Kinder haben keinen Unterkiefer – Symbol für die Unmöglichkeit, seine Stimme gegen die Diktatur zu erheben.
Noch mehr Kunst auf der documenta – oder ist es keine Kunst?
Filme aus Uganda – Wakaliga stellt sie billig her: unglaublich 200 $ soll die Produktion dieser Filme gekostet haben, in denen ein ganzes Dorfes mitgespielt hat, alles Laien. So weit, so lobenswert. Aber es sind superblutige Splatter-Filme und ich bin raus aus der Nummer.
In der documenta-Halle dominiert die Halfpipe den großen Raum. Sie darf benutzt werden: Ein Teammitglied des thailändischen Kollektivs Baan Noorg schult willige Besucher*innen im Skateboardfahren. Spenden in Form deutscher Skateboards werden für thailändische Kinder gesammelt. Dass sich das Kollektiv in seiner Heimat mit alternativen Möglichkeiten zur Bildung der Kinder beschäftigt und außerdem mit Bildern auf die schlechte Situation der Milchbauern in Thailand aufmerksam macht, fällt in der Präsentation gar nicht wirklich auf.
Kassel Bettenhausen
In Kassel Bettenhausen sind dieses Jahr erstmalig einige Ausstellungsorte für die documenta ausgewählt worden. Neben dem Hallenbad Ost (wo die Schlange vermutlich so lang war, weil Taring Padi dort ausstellen, das Kollektiv, dessen Installation auf dem Friedrichsplatz wegen der antisemitischen Darstellungen wieder abgebaut werden musste – ‚Scandal sells‘), gibt es auch noch die Hübner-Halle und die mittlerweile profanierte katholische Kirche St. Kunigunde.
Das Kollektiv Atis Rezistans/Ghetto Biennale aus Haiti hat illustre Figuren aus Totenschädeln ihrer Vorfahren, metallenen Industrieteilen und Rohren an expliziten Stellen wie große, steife Schwänze gebaut. Grotesk und vodooesk und auch ganz witzig finde ich das. Zusammen mit der manchmal stattfindenden Performance wirkt es vermutlich wie ein großes Spektakel.
Kochen, Gärtnern und die Dokumentation
Insgesamt gibt es auf der diesjährigen documenta jede Menge Koch- und Gärtnerprojekte. Gemeinsam essen kann Menschen verbinden und Gärtnern macht glücklich, das ist schon klar, für mich ist das jedoch keine Kunst. Aber schön.
Viele Installationen und Konzepte kommen von aktivistischen, urbanen Kollektiven, die in ihrer jeweiligen Heimat lokal wirken und helfen. Sie machen auf die benachteiligte gesellschaftliche und ökonomische Situation des globalen Südens aufmerksam. Der kulturelle Austausch wird großgeschrieben. Sicherlich eine gute Voraussetzung für Veränderungen, wobei der Krieg in der Ukraine leider gar nicht thematisiert wird.
Außerdem: Die Dokumentation ist ärgerlich! Die auf Bauchnabelhöhe angebrachten Schilder mit dürftigen Informationen machen Rückenschmerzen! Und der Katalog bleibt oft oberflächlich und hält sich mit Allgemeinplätzen auf, ohne die ausgestellten Werke konkret zu beschreiben, ja ohne sie überhaupt zu erwähnen.
Vokabeln der documenta fifteen
Hinter lumbung, harvest, nongkrong und Co stecken sehr schöne Ideen, aber man muss nicht wirklich alle Vokabeln kennen, um die documenta zu verstehen und natürlich sind auch nicht alle Ideen neu. Hier ein paar Vokabeln und die Idee dahinter:
Lumbung – dieser Begriff kommt mittlerweile allen Besucher*innen wie selbstverständlich über die Lippen. Die Reisscheune steht für Gemeinsamkeit, Teilen, Großzügigkeit und Miteinander.
Nonkrong ist der indonesische Begriff für gemeinsames Abhängen. Dazu passt auch das Motto ‚Macht Freunde und keine Kunst‘. Zusammen Reden, Essen und Zeit verbringen eben.
Warung Kopi bezeichnet ein Straßencafé in Indonesien und soll auf der documenta unterschiedliche Menschen zusammenbringen die gemeinsam Kaffee trinken und miteinander diskutieren. ‚Kommunikation als künstlerische Praxis‘ lautet das Stichwort. Meiner Meinung nach gab es sowas jedoch schon immer. Bei uns ist es eben einfach nur das Café oder die Kneipe.
Am Ende dieser Documenta geht es um Harvest, also die Ernte. Wie die ausfallen wird, wird sich zeigen. Was hat die Kunstschau gebracht?
ruangrupa – die Leitung der documenta fifteen
Das indonesische Künstler*innen Kollektiv ruangrupa hat für die nur alle 5 Jahre stattfindende documenta viele Künstler*innen-Kollektive eingeladen. Um die 1.500 Künstler*innen nehmen an der diesjährigen documenta teil, so viel wie noch nie. Diese haben sich in den ärmeren Teilen der Erde, zumeist dem globalen Süden, bereits für Teilhabe, Nachhaltigkeit und Ressourcenteilung eingesetzt. Ethische ehrgeizig trat die documenta fifteen an, und daran sollten sich auch alle beteiligten Künstler*innen orientieren. Dass das nicht immer gut gegangen ist, wissen wir nun. Jedoch hatte jede documenta ihren Skandal und ein Motto. Hier ein kurzer Ausflug in die Geschichte:
Die Geschichte der documenta von 1955 bis heute
Die mittlerweile weltweit bedeutendste Kunstschau für zeitgenössische Kunst – die zuerst alle vier, heute alle fünf Jahre stattfinde – war schon immer vielfältig und wandlungsfähig. Die erste documenta im Jahr 1955 hatte das Ziel „erstmals im Nachkriegs-Europa eine Ausstellung [zu] schaffen, die die Frage nach der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts beantworten sollte.“ (Zitat aus: Blickpunkt Hessen, Die Karriere einer Ausstellung der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung). Dem Gründer Arnold Bode (Maler, Kunstprofessor und Raumgestalter) war es wichtig zu zeigen, was während der Nazi-Zeit als Entartete Kunst galt zu zeigen, wobei wichtige jüdische Positionen leider nicht vorkamen.
Ganz klar stand eine Verquickung von Kunst und Politik im Mittelpunkt der ersten documenta-Ausstellungen. Es hieß sogar ganz offiziell, dass die Kunst der Politik dienen soll. Der Ort Kassel als Stadt im Zonenrandgebiet transportierte eine wichtige politische Botschaft zwischen den beiden großen politischen Systemen. in der documenta II (1959) waren viele der ausgestellten Kunstwerke abstrakt. Die gegenstandslose Malerei des Westens sollte als ausdrückliche Gegenposition zum sozialistischen Realismus verstanden werden. Eine Kiste mit Malereien des Abstrakten Expressionismus von zeitgenössischen US-Malern aus dem MoMa (Museum of Modern Art, New York) soll quasi eigenhändig von CIA-Agenten bestückt worden sein.
Die documenta III (1964) und die 4. documenta (1968) brachen mit der Abstraktion und stellten Pop Art und Minimal Art aus.
Joseph Beuys erneuerte auf der documenta 7 (1982) mit seinem Begriff der sozialen Plastik den Kunstbegriff radikal. Mit seiner Aktion 7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung griff Beuys nachhaltig in die Gestaltung der Stadt Kassel ein. Der umstrittene Künstler häufte 7000 Basaltstelen auf dem Vorplatz des Fridericianums an – und spendete dazu 7000 Eichen, die irgendwo im Stadtgebiet gepflanzt werden mussten, begleitet von jeweils einer Stele. Es dauerte fünf Jahre, bis die letzte Stele vom Haufen verschwand.
Die erste Frau, die die Leitung übernahm, war Catherine David bei der documenta X (1997). Es wurde eine documenta der Fotografie.
Die documenta 11 (2002) wurde mit Okwui Enwezor erstmals von einem Nigerianer geleitet. Im Zuge der Globalisierung wurden folgerichtig viele afrikanische Künstler*innen auf der documenta ausgestellt.
2022 kommt nun die documenta fifteen mit einem wiederum neuen Konzept: Die künstlerische Leitung wird erstmals von einem Künstler*innen Kollektiv übernommen. Ein Auswahlgremium, bestehend aus mehreren Direktor*innen verschiedener Museen, benannte ruangrupa 2018.
Finanziert wird die documenta übrigens von der Stadt Kassel, dem Land Hessen und der Kulturstiftung des Bundes. Auch diesmal wird sie wieder einen zweistelligen Millionenbetrag verschlingen.
Fazit
Mir hat die documenta fifteen gut gefallen. Die Stimmung war an allen Orten sehr entspannt und ich habe einen guten ‚Vibe‘ gespürt. Die Ausstellungen waren bestens besucht, auch von vielen jungen Leuten. Das ist großartig.
Die meisten Kunstwerke, Installationen und Ausstellungen waren für mich allerdings weniger Kunst als eine nonverbale Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Missständen dieser Welt. Die Fragen von sozialer Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Ressourcenteilung sind selbstverständlich DIE wichtigen Fragen der Gegenwart, benötigen dringend gute Antworten und durchführbare Lösungen. Die Sicht des globalen Südens anhand von Projekten, die lokal vor Ort Verbesserungen schaffen können, ist aufschlussreich und zuweilen eindrucksvoll präsentiert. Ich empfand die Ideensammlungen der Künstler*innen, die eher aktivistisch als künstlerisch arbeiteten, als gute Impulse. Allerdings: Inspiriert gemeinsames Kochen oder Gärtnern dabei ausreichend? Meiner Meinung nach sind das alles wunderbare Tätigkeiten, die auch im sozialen Miteinander viel Verbindung schaffen können und immer auch mit der Mahnung einhergehen, ressourcenschonend und mit einer Zero-Waste-Politik zu leben. Ich kann dem nur zustimmen, jedoch haben viele Werke mich nicht berührt – und das erwarte ich doch von der Kunst. Das hat mir diesmal in Kassel gefehlt.
Es ist sehr bedauerlich, dass die notwendigen Debatten um die Antisemitismus-Vorwürfe die von der documenta fifteen eigentlich intendierten Diskussionen in den Hintergrund gedrängt haben: Die Ungerechtigkeit der Welt im Postkolonialismus und die Klimakrise sind nur zwei fundamentale Themen, die es wert sind, ausführlicher diskutiert zu werden. Ich hoffe, dass die documenta fifteen zum Nachdenken anregt und einen Anstoß gibt, das Miteinander auf der Welt radikal zu ändern.
documenta fifteen in Kassel – britta kadolsky