Eigentlich ist das Pariser Musée d’Orsay, das „Museum des 19. Jahrhunderts“, eine einzige Überforderung – voll, unübersichtlich, mit einer Innenarchitektur, die an monströse mesopotamische Prozessionsstraßen erinnert.
Hier kann man sich natürlich an den Berühmtheiten entlanghangeln, an Monet und Manet, an Renoir, Gauguin, Cezanne oder van Gogh… Oder man macht es ganz anders, schlendert absichtslos und lässt sich überraschen. Auf mich wartet schon nach hundert Schritten eine erste Entdeckung: Édouard Sains „Fouilles à Pompei“.
Anfänge der Archäologie
Bereits im 18. Jahrhundert hatte die Ausgrabung der 79 n.Chr. durch einen Vesuvausbruch verschütteten Stadt begonnen. Bald waren goldgierige Raubgräber am Werk, reiche Kunstliebhaber konkurrierten um Statuen und dekorative Wandfresken, die ersten Archäologen und ihre Helfer rückten der erstarrten Oberfläche aus Vulkanasche brutal zu Leibe. Auf Sains Gemälde erscheint Pompeji vor allem als Staffage für hübsche Neapolitanerinnen, die die Knochenarbeit des Schuttabtransports wie einen Catwalk absolvieren. Nur am Rand sind ein paar Männer zu sehen – mit Spitzhacken, die heutigen Archäologen die Tränen in die Augen treiben würden.
Und doch vermittelt das Gemälde, bei aller pittoresken Schönfärberei, einen guten Eindruck von dem Wunder, das Pompeji für die Nachwelt bereithielt: die Wiederauferstehung einer untergegangenen antiken Welt. Fast glaubt man zu sehen, wie sich die typisch pompejanischroten Säulen der Villen von einst aus dem Untergrund nach oben schieben, in ein neues Leben und die Gegenwart hinein.
Gerome: Golgatha wie noch nie
Auf dem Gemälde „Jérusalem, dit aussi Golgotha, Consummatum est; La Crucifixion“ sehe ich zuerst nur die Karawane, die unter zerrissenem Himmel und fahlem Mond vom wüsten Ölberg weg in eine Schlucht Richtung Stadt zieht. Bis der Blick auf die rechte untere Ecke des Gemäldes fällt – und damit auf des Rätsels Lösung. Jesus und seine beiden Mitgekreuzigten sind hier nicht als Körper gefasst, sondern als riesiger Schattenriss. Eine geniale Idee für einen Künstler, der eine radikal neue Lösung für eins der ältesten Motive der Kunstgeschichte suchte: Jean-Léon Gerome.
Aber nicht nur wegen dieses Einfalls fasziniert das Bild. Es ist auch die unendliche Einsamkeit, die von den Schatten ausgeht. Als ob die Welt ihnen den Rücken gekehrt und sie vergessen hätte, ihr Leid umsonst. Wie aus dem Tod von Golgatha eine Weltmacht hervorgehen konnte, kann angesichts dieser Trostlosigkeit gar nicht anders denn als Rätsel erscheinen.
Wiley: Black Lives Matter
Der gewaltsame Tod und die Umdeutung historischer Motive sind auch das Thema eines der ganz wenigen Werke der Gegenwartskunst im Musée d’Orsay. Wie ein Sprengsatz wirkt es in der zentralen Allee mit ihren Skulpturen aus dem vorvergangenen Jahrhundert.
„An Archeology of Silence“ heißt diese Arbeit des Afroamerikaners Kehinde Wiley. Unübersehbar greift die überlebensgroße Bronzeskulptur heroische Darstellungen gefallener Soldaten auf. Doch die Kleidung des im Todeskampf erstarrten Mannes, erst recht der Blick auf die farbenfrohe malerische Spiegelung des Motivs auf der anderen Seite der Galerie macht klar, dass hier ein toter Schwarzer Zivilist liegt. „Gefallen“ offenbar in einem Krieg, der nie erklärt wurde. Die Täter sind unsichtbar – trotzdem reiht sich das Werk unausgesprochen ein in die Geschichte von Bürgerkriegen und rassistischen Morden, gegen die die „Black lives matter“-Bewegung aufbegehrt.
Ein Bild von einer Unternehmerin: Jeanne Lanvin
Zum Schluss noch ein Bild, das in keiner der Gemäldegalerien hängt, sondern in der Möbel-Abteilung, genauer: „Décors modernes 1905-1914“. Und tatsächlich gehört es mit zum Modernsten, was das Orsay zu bieten hat: das Portrait einer erfolgreichen Unternehmerin.
Jeanne Lanvin war die Gründerin eines der ganz großen Pariser Modehäuser. Auf Édouard Vuillards Gemälde sitzt sie in einem wohlgeordneten, weitgehend schmucklosen Büro am Schreibtisch, ein Hündchen zu ihren Füßen. Nicht nur ihre Selbstbehauptung als Frau oder das Design ihrer Umgebung ist zukunftsweisend, auch Vuillards Gemälde selbst. Lang bevor sich der Farbfilm massenhaft verbreitet, wirkt es wie ein Produkt kommender medialer Zeiten: aus der Ferne, auf den ersten Blick, wirkt es wie ein riesiges Farbfoto.
Musée d’Orsay – ein radikal subjektiver Rundgang – Ruth Fühner