Die einzigartige Wirkung von Kunst: Das Stendhal Syndrom
Stellen Sie sich vor, Sie stehen in einer italienischen Kunstmetropole, umgeben von Meisterwerken, und plötzlich überkommt Sie ein Gefühl von Schwindel, Herzrasen und Atemnot. Sie erleben eine Panikattacke, Wahnvorstellungen und drohen in Ohnmacht zu fallen. Klingt ungewöhnlich? Das ist das Stendhal Syndrom, eine kulturelle Reizüberflutung, die vor allem Touristen trifft.
Der Name geht zurück auf den französischen Schriftsteller Marie-Henri Beyle, besser bekannt unter seinem Pseudonym Stendhal. Vor rund 200 Jahren taumelte er durch die malerische Stadt Florenz und beschrieb in seinen Reiseberichten eine Art Ekstase. Er fühlte sich wie ein Verliebter, genoss die “angenehmen Sensationen”, war aber gleichzeitig bestürzt über seinen Zustand.
Die heftige körperliche Reaktion überkam Stendhal in der Franziskanerkirche Santa Croce in Florenz. Die Kirche beherbergt die Grabmäler von Michelangelo, Galileo Galilei, Rossini, Machiavelli und vielen anderen berühmten Italienern. Die Wände sind geschmückt mit Fresken von Giotto und anderen Meistern der Kunst.
Stendhal war nicht der Einzige, der von dieser Ergriffenheit beim Anblick von Kunst berichtete. Heinrich Heine sprach von einer Verwirrung seiner Sinne im Mailänder Dom und Willhelm Heinse beschrieb ein Gefühl des Schwebens im Pantheon von Rom. Sigmund Freud analysierte seine eigenen Empfindungen bei einem Besuch der Akropolis in Athen und untersuchte den Fall einer Psychose bei einem Archäologen nach einem Besuch in Pompeji.
Ein Fall für die Psychologie
Seit 1979 heißt das Syndrom nach Stendhal – und die psychiatrische Klinik der Stadt Florenz hat über die Jahre hinweg eine Reihe von entsprechenden Fällen dokumentiert. Graziella Magherini, eine Psychologin, hat mehr als 100 von ihnen in einer Studie beschrieben. Immer traten die Symptome bei ausländischen Touristen auf – interessanterweise scheinen Italiener von diesem Phänomen verschont zu bleiben.
Es äußert sich in psychosomatischen Beschwerden, die von mild bis schwer reichen. Obwohl die Diagnose in der Medizin umstritten ist, finden sich Beschreibungen der Symptome auch in medizinischen Lexika. Einige Patienten berichten von einem Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit, das sie beim Anblick der historischen Kultur- und Kunstschätze überkommt. Andere wiederum fühlen sich geradezu allmächtig.
Es ist ein faszinierendes Phänomen, das zeigt, wie mächtig Kunst sein kann und wie sie uns auf tiefster Ebene berühren kann.
Ursachen des Syndroms – ein Erklärungsversuch
Stellen Sie sich vor, Sie sind auf dem Weg zu einem Museum. Ihr Herz klopft vor Vorfreude, Ihre Sinne sind geschärft, bereit, sich von der Schönheit der Kunstwerke verzaubern zu lassen. Es ist, als würden Sie einen Gottesdienst besuchen, bereit, sich von der spirituellen Erfahrung berühren zu lassen – wenn Sie denn gläubig sind.
Florenz, die Stadt der Kunst, wartet auf Sie. Jede Straßenecke birgt einen neuen Schatz: Brunelleschis Kuppel des Doms, Ghibertis Bronzetüren am Baptisterium, Michelangelos Marmorstatue des David. Unzählige Bronze- und Marmorstatuen von Cellini bis Giambologna in der Loggia dei Lanzi, Museen und Kirchen, die sich aneinanderreihen.
Und dann die Uffizien: Botticellis Venus, Tizians Venus von Urbino, Raffaels Jungfrau mit Stieglitz. Der alte Terrazzoboden im Museum schillert in allen Farben, die Deckengemälde sind atemberaubend. Ein Blick aus dem Fenster offenbart die liebliche toskanische Landschaft, den Arno und den Ponte Vecchio. Es ist überwältigend – allein diese Aufzählung macht mich schwindelig.
Die Schönheit der Kunst kann eine Art Überarbeitung der Seele auslösen, eine Reizüberflutung. Ein Kunstwerk kann Ihre innere Gefühlslage treffen und Sie tief bewegen.
Eike Schmidt, bis Ende letzten Jahres Direktor der Uffizien, weiß von dieser Kraft der Kunst. Auf die Frage, ob er an das Stendhal Syndrom glaube, antwortete er mit einem klaren “Ja”. Er erzählte, dass im Saal von Caravaggios “Medusa” ein Erste-Hilfe-Koffer bereitsteht, da Menschen unter dem intensiven Blick der Medusa immer wieder zusammenklappen.
Oder könnte es sein, dass die emotionalen Qualen der verunsicherten Kunstliebhaber eine andere, weniger bedrohliche Ursache haben?
Künstler:innen fordern Emotionen ein
Stellen Sie sich vor, Sie stehen vor einem Gemälde, das so intensiv ist, dass es Ihre Emotionen herausfordert. Künstler:innen streben oft genau danach – sie wollen, dass ihre Werke Sie berühren, vielleicht sogar überwältigen.
Nehmen wir zum Beispiel Mark Rothko, den amerikanischen Meister der Farbfeldmalerei. Er schuf abstrakte Gemälde, die vor Farbe nur so leuchten und strahlen. Rothko wollte, dass seine Kunstwerke grundlegende menschliche Emotionen ausdrücken – Tragödie, Ekstase, Untergang. “Die Menschen, die vor meinen Bildern weinen, haben die gleiche religiöse Erfahrung wie ich, als ich sie gemalt habe”, sagte er. Wenn sensible Betrachter:innen so reagierten, sah er das als Bestätigung seiner Arbeit.
Ich erinnere mich noch gut an meinen Besuch der Rothko-Ausstellung im Kunsthistorischen Museum in Wien 2019. Ich trat so nah an ein Gemälde heran, dass ich nur noch die Farbflächen sah. Sie schwirrten vor meinen Augen, zogen mich in ihren Bann. Besonders die rot-orangefarbenen Bilder hatten es mir angetan – ein wirklich berauschendes Erlebnis. Zwar musste ich nicht weinen, doch die Emotionen, die diese Kunstwerke in mir auslösten, waren unvergesslich.
Stendhal-Erfahrung in Orvieto
Auch Ruth Fühner, meine Redakteurin und Autorin einiger Gastartikel, ist nicht unempfindlich für das Stendhal Syndrom. Hier ihr Bericht:
Jemand hatte mir den Dom von Orvieto dringend ans Herz gelegt. Aber mit Sehenswürdigkeiten ist das ja so eine Sache, oft ist das nicht mehr als abzuhakendes Pflichtprogramm für Bildungsreisende. Wir fahren also hinauf ins Altstadtgewirr und machen uns auf den Weg.
Als wir heraustreten aus der dunklen Gasse, die auf den Domplatz führt, passiert mir etwas, das ich noch nie erlebt habe: mir schießen die Tränen in die Augen, mir wird schwindlig. Als wäre alles, was ich bis dahin für schön gehalten hatte, unter mir weggebrochen, restlos, und nur DAS HIER noch übrig. Das ist es wohl, was der französische Dichter Stendhal in Florenz erlebte und was seither das Stendhal Syndrom heißt: der Schock purer Gegenwart. All meine kritischen Vorbehalte gegen klerikale Tyrannei, auf die ich mir sonst nicht wenig einbilde – weggefegt.
Stattdessen: eine überwältigende Dankbarkeit. Für die leuchtenden Farben und das Gold der Mosaiken. Für die fein ziselierten, sich umeinanderwindenden bunten Streben himmelwärts, für die von Leben wimmelnden, erzählfreudigen Reliefs der Fassade. Ich kann mich nicht satt sehen. Ich will bleiben, gar nicht mehr weggehen. Trete zurück und nochmal näher hin, wandere von rechts nach links und wieder zurück, um die Reliefs zu erkunden, was wird hier erzählt, was da, ich trete noch einmal ganz weit zurück und schaue nach oben, versuche, nochmal das Ganze zu erfassen, die Harmonie der gotischen Fassade, ihre seltsam bergende, tröstliche Kraft.
Und dann klingt er allmählich wieder ab, der Schock. Und sie tut fast weh, die Rückkehr zur Normalität: zum klareren Blick, der historischen Distanz, den nüchterneren Freuden des Entdeckens und des Einsortierens. Aber was bleibt von diesem Tag, das ist dieser eine Moment, in dem ich Konvertitin war, eine neugeborene Anhängerin einer Religion namens Kunst.
Fazit
Kunst kann überwältigen. Sie kann uns in einen Zustand der Ekstase versetzen, uns schwindelig machen vor Ehrfurcht. Aber ist es die Kunst selbst, die uns krank macht? Oder sind es die drängenden Touristenmassen und der ständige Blick nach oben, der uns, besonders in der Sommerhitze, den Boden unter den Füßen entzieht? Ist es der Stress, ein Kunstprogramm abarbeiten zu müssen, um ja nichts zu verpassen?
Ich verstehe diese Symptome. Auch ich gerate manchmal in einen Zustand der Überwältigung, fühle mich beglückt beim Anblick einer Fülle von Kunst. Glücklicherweise ohne Schwindel und Panik, aber durchdrungen von wahrer Verzückung. Die Kombination von monumentaler Architektur und berührender Kunst löst bei mir immer eine Ekstase aus, besonders beim ersten Erleben. Zuerst muss ich mich selbst beruhigen, um in diesem überwältigenden Moment die Ruhe für den Genuss zu finden. Dann fühle ich, wie ich mit jeder Faser meines Körpers die Schönheit aufnehme. So erging es mir bei meinem ersten Besuch auf der Biennale in Venedig, bei den Uffizien und dem Guggenheim in Bilbao und New York.
Kunst ist eine aufwühlende, aber wohltuende Seelenmassage, die man sich oft gönnen sollte!
Das Stendhal Syndrom – Risiken und Nebenwirkungen beim Kunstgenuss – Britta Kadolsky