Meine 5 Begegnungen mit Niki de Saint Phalle: Als junge Erwachsene sind mir die farbenfrohen Nanas von Niki de Saint Phalle erstmals begegnet. Ich war für Kunst noch nicht so empfänglich, fühlte mich aber zu den üppigen, fröhlichen und monumentalen Frauenfiguren hingezogen. Bei einem Städtetrip nach Paris saß ich begeistert am Strawinsky Brunnen neben dem Centre Pompidou und schaute den farbenfrohen und spielerischen Skulpturen von Niki de Saint Phalle und den wassersprühenden kinetischen Maschinen von Jean Tinguely zu.
Jahre später besuchte ich während eines Italien-Urlaubes den Tarotgarten der Künstlerin in der Toskana. Auch hier überwog das Bunte und Verspielte bei den 22 skurril geformten Figuren mit ihren Mosaiken, die einem Traum entsprungen schienen. Meine vierte und intensivste Begegnung mit der französisch-amerikanischen Künstlerin hatte ich dann während meines Studiums der Kunstgeschichte: In einem Seminar über Assemblagen faszinierten mich ihre Schießbilder (Hier ein Artikel aus dem Archiv). Seither bin ich in jeder Hinsicht ein Fan von Niki de Saint Phalle und ihrer Kunst! Nun widmet die Kunsthalle Schirn in Frankfurt der avantgardistischen Künstlerin eine große Ausstellung und ich kann mich zum fünften Mal mit ihrer Kunst beschäftigen. YEAH!
Das turbulente Leben der Niki de Saint Phalle
Ihr Name klingt wie ein Künstlerinnenname – de Saint Phalle ist jedoch der Name ihres adligen französischen Vaters. Die Eltern wandern kurz nach ihrer Geburt 1930 in die USA aus, Niki de Saint Phalle und ihren Bruder lassen sie bei den Großeltern in Frankreich zurück. Erst nach drei Jahren kommen die Kinder zu ihren Eltern. Im Alter von elf Jahren wird Niki de Saint Phalle von ihrem Vater sexuell missbraucht, was sie in den 1990er Jahren öffentlich macht. Sie arbeitet als Model für die Vogue, Harpers Bazaar und ist auf der Titelseite des Life Magazine abgebildet. Sie heiratet mit nur 18 Jahren einen Jugendfreund, mit dem sie zwei Kinder bekommt. Das Paar siedelt aus den USA nach Paris über, um dem repressiven Klima der McCarthy-Ära zu entkommen. Aufgrund eines Nervenzusammenbruchs wird Niki de Saint Phalle in einer Nervenheilanstalt mit Elektroschocks behandelt, nach ihrer Entlassung beginnt sie zu malen. Sie verlässt Mann und Kinder, und fortan ist, wie sie sagt, die Kunst ihr Lebensretter.
In Paris macht sie Anfang der 1960er Jahre mit ihren Schießbildern, den sogenannten Tirs, auf sich aufmerksam (Die Bezeichnung leitet sich ab vom französischen Verb tir = schießen). Die Künstlergruppe Nouveau Réalisme lädt sie ein, Teil der Gruppe zu werden. Hier lernt sie den Schweizer Künstler Jean Tinguely kennen und lieben. Sie ziehen 1960 zusammen und heiraten 1971. Niki de Saint Phalle setzt sich in den 1980er als Aktivistin für an Aids erkrankte Menschen ein, in den 1990ern zieht sie zurück in die USA und engagiert sich für das Recht auf Abtreibung, gegen ausufernden Waffenbesitz und gegen den Klimawandel. Im Alter von nur 71 Jahren stirbt sie 2002 in San Diego.
Während der gesamten Zeit ist sie künstlerisch tätig. Und wie! Sie malt nicht lange und beginnt schon bald mit ihren Assemblagen und Schießbildern. Es folgen die Nanas. Ihre Skulpturen werden immer größer und sind bald begehbar. Ihre Zeichnungen verdeutlichen ihr gesellschaftspolitisches Engagement, Filme und Bücher komplettieren ihr vielseitiges Schaffen.
Ihr maßgebliches Thema ist Unabhängigkeit: Sie will unabhängig sein von ihrer Familie, von Mann und Kindern, den Eltern, vom Patriachat, vom Geld anderer und überhaupt unabhängig von allen Konventionen. Mit ihrer Kunst macht sie sich unabhängig, indem sie ein gutes Merchandising betreibt: Sie kreiert ein eigenes Parfum, verkauft Auflagen ihrer Zeichnungen und Bronzeskulpturen, um ihren Tarotgarten zu finanzieren. Und: Sie erfindet sich immer wieder neu – sie wechselt ihren Stil, ihr Medium, ihr Material.
Ihre Schießbilder bluten
Ende der fünfziger Jahre wendet sich Niki de Saint Phalle von der Malerei ab und den Assemblagen zu: Ihre Werke bestückt sie mit zunächst mit Dingen, die sie im Alltag findet – Scherben, Nägel, Muscheln. Später kauft sie Plastikspielsachen, wie Puppen, Soldaten, Waffen und Tiere als Ready-mades für ihre Kunst. 1961 beginnt sie, ihre Assemblagen mit einem Gewehr zu beschießen – die sogenannten Tirs, die Schießbilder entstehen.
„Sie zielt damit zugleich auf die gesellschaftlichen Normen und die Grenzen der bürgerlichen Kunstwelt.“ (Zitat Schirn)
Beschossen werden Gipsreliefs mit darunter eingebetteten Farbbeuteln, mit einem Gewehr gerne auch als Performance vor Publikum. Durch den Schuss wird das Bild verletzt, die Farbbeutel platzen auf und die Farbe quillt aus den Löchern und läuft über die weiße Gipsstruktur, als ob das Bild blutet. Aus der Zerstörung des Bildes entsteht ein neues Kunstwerk: Radikal. Es ist eine gewalttätige Metamorphose, durch die das Werk, mit dem Verlauf der Farbe, sein endgültiges Aussehen annimmt.
In die Kategorie der Tirs gehört auch das Werk Kennedy – Chruschtschow von 1962. Die Köpfe der beiden Politiker mit ihren grotesk verzogenen Grimassen befinden sich, siamesischen Zwillingen gleich, auf einem weiblichen Körper mit großer Vulva und Strapsen. Jeder Kopf hat seine eigene Haarpracht und der rechte Arm umarmt den Körper, was auf den berühmten Handschlag der beiden Regierungschefs der eigentlich verfeindeten Länder USA und Sowjetunion, hinweist.
Die Figur ist mit Revolver, Raketen, Messern, einem Gewehr und anderen Objekten bestückt. Kleine Spielzeugsoldaten sind in einer Reihe um die Taille herum angeordnet, während die übrigen Materialien keiner Ordnung zu folgen scheinen. Die Strapse bestehen aus Seilen und kleinen Püppchen. Die Plastikobjekte besitzen teilweise noch ihre ursprüngliche Farbe, ansonsten dominieren die Farben Rot und Grün aus den beschossenen Farbbeuteln.
Gewalt auf der Welt = Gewalt in Niki de Saint Phalles Kunst
Konflikte und Kriege sind Anfang der 1960er Jahre allgegenwärtig. Der Algerienkrieg, in dem die französische Kolonialmacht die Unabhängigkeitsbestrebungen Algeriens bekämpft, und der Vietnamkrieg, eine Folge des ersten Indochinakrieges ist, in dem Frankreich ebenfalls eine unrühmliche Rolle als ehemalige Kolonialmacht spielte. Zunehmend regt sich auch in Frankreich Widerstand in der Bevölkerung. Außerdem spitzt sich, seit der gescheiterten Kuba-Invasion der USA 1961 in der Schweinebucht, der Kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion zu. Die nukleare Bedrohung wächst.
Das alles thematisiert das monumentale Schießbild King Kong! Es ist über 6 Meter lang, und aufgrund seiner vielen Figuren und Komponenten gucke ich stundenlang – was nur eine kleine Übertreibung ist, denn es gibt unglaublich viel zu sehen: Auf mehreren aneinandergereihten Bildträgern hat Niki de Saint Phalle in Leserichtung den Ablauf des Lebens von der Geburt bis zum Untergang der Welt abgebildet. In der oberen linken Ecke gebärt ein Frauenkörper eine Plastikpuppe. Danach werden Kindheit, Jugend, Liebe und Hochzeit thematisiert. In der Mitte des Werkes befinden sich 10 Gesichter: Prominente Politiker wie Kennedy, Chruschtschow, Lincoln, Castro und de Gaulle und clownartige Fratzen sowie Totenköpfe. Auf der rechten Seite des Bildes läuft ein Monster, das wie Godzilla aussieht, auf die Hochhäuser zu, die New York symbolisieren.
Eine comicähnliche Sprechblase mit dem Wort BOOM hängt über der Szenerie. Unterhalb der Häuser sitzt eine beängstigend riesige Spinne. In diesem Schießbild tritt ausschließlich schwarze Farbe aus den angeschossenen Stellen – somit ist das Werk, im Gegensatz zu de Saint Phalles anderen farbenfrohen Bildern und Skulpturen, ganz in schwarz-weiß – sicher auch eine Hommage an den ersten King Kong Film von 1933, denn die in Amerika aufgewachsene Künstlerin liebt Horror-Filme. Das Breitbandformat eines Kinofilmes mag der Impuls für die monumentale Länge des Werkes sein, das von der allgegenwärtigen apokalyptischen Stimmung inspiriert ist. Zu jener Zeit ist die atomare Bedrohung allgegenwärtig. Der erste Godzilla Film erscheint 1954 in Japan und thematisiert den Abwurf amerikanischer Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki wenige Jahre zuvor. Niki de Saint Phalle bezieht mit diesem Schießbild Stellung gegen den Irrsinn des Wettrüstens samt der nuklearen Bedrohung. Dieses Werk markiert ihre vorerst letzte Schießaktion.
Die Frau: zentrales Motiv
Das Motiv der Frau zieht sich in seinen unterschiedlichsten Facetten durch die Kunst von Niki de Saint Phalle. So thematisiert sie unter anderem das Dasein als Tochter, als Mutter, als Ehefrau, als Geliebte, als Braut, als Gebärende, als Verlassene und als alternde Frau.
Auf ihrem Werk Altar der Frauen tauchen viele dieser Rollenbilder vor dunkelroten Hintergrund auf, und alle Frauen sind bedroht: Am rechten Rand befindet sich ein riesiges rotes – Godzilla-ähnliches – Ungeheuer, das sein Maul aufreißt. Zusätzlich greifen Flugzeuge an. Links, im Körper der Gebärenden, der wie bei einer Sturzgeburt eine Plastikpuppe aus der Vulva zu fallen scheint, haben sich Tiere hineingebohrt, ihre Beine sind abgeschnitten.
Die Braut daneben wirkt tot: Die Fäden, aus denen die Künstlerin das Gesicht gemacht hat, erinnern an Würmer, Augen und Mund sind lediglich hohle, schwarze Löcher. In dem großen Loch in ihrer Brust hat Niki de Saint Phalle das katholische Symbol für die Gottesliebe, das Heilige Herz platziert – ein biografischer Bezug, denn so hieß ihre Klosterschule in New York. Damals wurde sie von der Schule verwiesen, weil sie sich nicht an die Konvention hielt: Sie malte die Feigenblätter der griechischen Skulpturen hellrot an. Zum religiösen Kontext passt auch, dass dieses Werk, ähnlich einem Kirchenaltarbild, als Triptychon gestaltet ist. Und auch der Titel verweist natürlich auf einen religiösen Zusammenhang. Die provozierend unchristliche Figur über der Braut stellt eine Prostituierte dar. Ihr Körper ist mit Geldscheinen gepflastert, in ihrem Körper befinden sich mehrere männliche Köpfe sowie ein Totenkopf. Zu diesem Werk, das im Anschluss an die Werkphase der Schießbilder entstand, sagt Niki die berührenden Sätze: „Die Wut war weg, der Schmerz war da. Meine Arbeiten hatten sehr viel mit dem Leiden zu tun, und im Schmerz begann ich, Frauen in ihren verschiedenen Rollen zu gestalten: die Braut, die Gebärende, die Prostituierte. Ich war auf der Suche. Wer ist die Frau? Wer bin ich?“ (Zitat Schirn)
Mit den Nanas feiert sie den weiblichen Körper, seine Kraft und Fruchtbarkeit. Nun überwiegen Freude und Lebenslust in Niki de Saint Phalles Kunst. Die drallen Figuren scheinen leicht wie eine Feder zu sein und fliegen oder tänzeln wie gewichtlos. Da die Nanas mit ihren ausufernden Körperformen nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen und trotzdem so viel Lebensfreude und Lust ausstrahlen, wirken sie umso stärker, selbstbewusst und unabhängig. Während ich die ersten Nanas damals (vor Jahrzehnten) einfach nur bunt und fröhlich fand, haben sie heute eine facettenreichere Bedeutung für mich: Sie stehen für Lebenskraft, Weiblichkeit und eine freie Lebensgestaltung ohne Konventionen. Allerdings störe ich mich immer daran, dass die Köpfe der Nanas so klein sind – nicht wegen der ästhetischen Proportionen, sondern inhaltlich und sinnbildlich würden mir Frauen mit größeren Köpfen besser gefallen. Sogleich bin ich jedoch wieder entzückt von einer, diesmal schwarzen, Nana, die komplett mit Mosaiken bestückt ist. Eine Hommage an die Vielfalt der Frau.
Anfangs hat die Künstlerin die Nanas mit Hasendraht, Pappmaschee und Stoff gefertigt, später nutze sie Polyester, wodurch die Figuren haltbarer werden und auch im Freien aufgestellt werden können. Die Dämpfe bei der Verarbeitung des Polyesters greifen jedoch ihre Lunge an und tragen vermutlich zu ihrem frühen Tod bei.
Das Thema Frau wird in der Ausstellung in der Frankfurter Schirn auch farblich betont: ich finde das grelle Pink, in das der Raum getaucht ist, allerdings ein bisschen zu deutlich – ist doch Pink eine inzwischen symbolisch abgenutzte Farbe für alles Weibliche. Schön ist jedoch, dass der Raum nach hinten hin, mit ihrem reiferen Werk, langsam ins dunkle Violett changiert. Diesen Farbkniff finde ich dann doch gelungen.
Gesellschaftspolitisches Engagement
Die Zeichnungen zu ihrem politischen Engagement enthalten auch immer ihre ornamental verzierte Schrift. Als eine der ersten Künstler:innen engagiert sich Niki de Saint Phalle im Kampf gegen Aids und klärt auf, unter anderem mit dem Film AIDS. Vom Händchenhalten kriegt man‘s nicht. Sie wirbt für die Nutzung von Kondomen. Auch die drei phallischen Gebilde am Ende des Ausstellungsraumes, von der Künstlerin Obelisken genannt, thematisieren die Wichtigkeit von Safer Sex. Fun Fact: Bei meinen Recherchen zu diesem Artikel stoße ich auf das Schweizer Boulevardblatt Blick von 1994, das sich über eine von Niki de Saint Phalle designte Briefmarke mit einem Phallussymbol echauffierte. Die Darstellung ist farbig, erinnert an ihre Obelisken und trägt die Unterschrift: stop AIDS stop Sida. Erst dieser Hinweis lässt erkennen, dass es sich um ein Kondom handeln soll. Aufgebrachte Schweizer Bürger:innen schreiben der Post: Sie sehen die Moral gefährdet.
In der Ausstellung ist noch so viel mehr zu sehen:
- Lithografien gegen das Unrecht in der Welt,
- Eine riesige bronzene Braut auf einem übervoll mit Objekten bestückten Pferd
- der einzige Mann der Ausstellung, der kopfüber hängt
- der glitzernde Totenkopf, ein Meditationsraum, inspiriert vom enttabuisierten mexikanischen Umgang mit dem Tod
- ein Modell der größten und begehbaren Nana, der 26 Meter langen Hon, die durch ihre Vulva begehbar war und im Inneren ein Kino, eine Bar und mehr enthielt, ausgestellt in den 1960er Jahren in Stockholm
- sowie viele weitere Modelle, Schriftstücke, Assemblagen und und und, aber das würde den Umfang dieses Artikels sprengen.
Fazit
Eine wunderbare Ausstellung, die das gewaltige Ausmaß und die Vielfalt von Niki de Saint Phalles Oeuvre repräsentiert. Neben ihrem unermüdlichen Einsatz für die feministische Unabhängigkeit ist auch ihr politisches Engagement zu erfahren. Und immer wieder ist es faszinierend zu sehen, wie sehr sie mit ihren künstlerischen Darstellungen den Zustand der Welt abgebildet, kritisiert und hinterfragt hat. Kunst entsteht immer im Kontext. Noch bis 21. Mai in der Schirn.
Wer mehr über Niki de Saint Phalle HÖREN möchte, dem empfehle ich den Podcast KUNST & KNACKIG von Saskia und mir: Frauenpower: Mutige Frauen in Kunst und Kultur bei spotify oder bei Apple Podcasts
Eine schöne Dokumentation über ihr Leben von Peter Schamoni von 1995 ist: Niki de Saint Phalle: Wer ist das Monster – Du oder ich?
Meine 5 Begegnungen mit Niki de Saint Phalle – Britta Kadolsky