Alte und neue Kunst im Jüdischen Museum Frankfurt erleben
Frankfurt war und ist eines der wichtigsten Zentren jüdischen Lebens in Europa. Seit mehr als 800 Jahren ist die jüdische Gemeinde ein Teil der Frankfurter Geschichte. Erleben kann man das im Jüdischen Museum Frankfurt. Das Museum besteht aus zwei Häusern: Dem Museum Judengasse, in dem archäologische Fundamente des ältesten Ghettos Europas zu sehen sind, und dem Jüdischen Museum im Rothschild-Palais am Main.
500 Jahre alte Grundmauern des alten Ghettos
Fast hätten Bauarbeiter die über 500 Jahre alten Grundmauern der Judengasse zubetoniert, die 1987, beim Bau eines Verwaltungsgebäudes in der Frankfurter Innenstadt, zum Vorschein kamen. Nach öffentlichen Protesten richtete die Stadt Frankfurt dort ein Museum ein.
Die Überreste der Mauern gehören zu einem der ersten jüdischen Ghettos in Europa. 1460 beschloss der Frankfurter Stadtrat, die jüdische Bevölkerung in einem abgetrennten Bezirk anzusiedeln, man könnte auch sagen: einzusperren. Im 17. Jahrhundert wohnten hier, zusammengedrängt auf allerengstem Raum, 3.000 Menschen. Mehrere Brände verwüsteten das Ghetto Anfang des 18. Jahrhunderts, bis in der Folge der Französischen Revolution die Beschränkung der jüdischen Bewohner auf das Ghetto beendet wurde: Napoleon verfügte die Gleichberechtigung aller Konfessionen. Die Judengasse in Frankfurt war zusammen mit der Hauptsynagoge ein bedeutendes Zentrum jüdischen Lebens in Europa. 1938 setzten die Nationalsozialisten alle Synagogen in Brand, und nach dem Krieg wurde die Straßenführung geändert, so dass der Verlauf der Judengasse heute nicht mehr im Stadtbild zu erkennen ist. Auch das erklären Karten, Fotos und Schriften im Museum Judengasse, in dem man in die ausgegrabenen Fundamente einiger Häuser hinabsteigen kann.
Gedenkstätte Börneplatz
Direkt nebenan liegt der Alte Jüdische Friedhof. Umgeben von einer 300 Meter langen Mauer, bildet er mit seinen fast 12.000 eingelassenen Blöcken die Gedenkstätte Börneplatz. Jeder Block trägt den Namen eines im Holocaust deportierten und ermordeten jüdischen Menschen. Aus der Ferne betrachtet, bilden die Blöcke ein gleichmäßiges, minimalistisches Muster – erst beim Herantreten kann ich auf ihnen einen Namen sowie den Ort der Ermordung lesen. Ich suche nach Anne Frank, den Rothschilds und auch nach Schames‘ Mutter und Schwester. (Hier geht es zu meinen Artikel über den Künstler Samson Schames, dem zurzeit eine Kabinettausstellung im Jüdischen Museum gewidmet ist.)
Auf jedem Block liegt ein Stein – als Zeichen der Erinnerung. Auch ich lege einen Stein auf den Block von Sofie Schames, der Mutter des Künstlers.
Die Dauerausstellung im Jüdischen Museum im Rothschild-Palais
Das ehemalige Wohnhaus der Familie Rothschild, ein klassizistisches Palais, beherbergt die Dauerausstellung des jüdischen Museums. Gegenstände des jüdischen Lebens wie Tora-Rollen, ein Talmud, Chanukkaleuchter, Gebetsmäntel und mehr zeigen Traditionen und Rituale des jüdischen Lebens. Videos, Texte und Interviews thematisieren, wie Jüdinnen und Juden die kulturelle, wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Stadt prägten, und zeigen jüdische Erfahrungen von Diskriminierung und Gewalt auf.
Das Museum eröffnete am 9. November 1988, exakt 50 Jahre nach der Pogromnacht.
Jüdisches Leben in Frankfurt
Ich habe einen Einblick in die Vielfalt jüdischer Lebensstile, die Geschichte und das Leben Frankfurter Jüdinnen und Juden erhalten. So wusste ich bisher weder, dass es in Frankfurt-Zeilsheim nach dem Zweiten Weltkrieg ein Lager für zurückgekehrte Personen jüdischen Glaubens gab, sogenannte ‚Displaced Persons‘, noch dass die Rothschilds seinerzeit die Bibliothek der Goethe-Universität mitbegründeten.
Anfang der 1960er Jahre fanden die Frankfurter Ausschwitz-Prozesse unter dem Schutz der hier stationierten US-Armee statt, dessen maßgeblicher Initiator Fritz Bauer war. Seit dem Film Der Staat gegen Fritz Bauer ist der jüdische Generalstaatsanwalt aus Frankfurt heute wieder bekannt. Mit seiner Hilfe gelang es, den NS-Verbrecher Adolf Eichmann Adolf Eichmann in Argentinien aufzuspüren und, wenn auch nicht wie gewünscht in Deutschland, so doch in Jerusalem vor Gericht zu stellen.Der Film ist momentan auf einigen Streaming-Plattformen zu sehen. Außerdem läuft gerade der Dokumentarfilm Fritz Bauers Erbe – Gerechtigkeit verjährt nicht in den deutschen Kinos an.
Anne Franks Tagebuch in 70 Sprachen
Drei Frankfurter Familiengeschichten erzählt die Dauerausstellung im Erdgeschoss des Jüdischen Museums: Die der Rothschilds, der Sengers und der Familie Frank. Das Tagebuch von Anne Frank kennen wir alle und ist, übersetzt in 70 Sprachen, weltberühmt. Ihre Familie lebte seit Generationen in Frankfurt. 1934 flohen sie vor der Verfolgung in die Niederlande. Otto und Edith Frank und ihre Kinder Anne und Margot versteckten sich in Amsterdam. 1944 wurden sie verraten und nach Ausschwitz verschleppt. Anne und ihre Schwester Margot wurden, bereits krank, ins KZ Bergen-Belsen gebracht, wo sie 1945 starben. Nur der Vater Otto Frank überlebte und veröffentlichte das Tagebuch seiner toten Tochter.
Die zwei impressionistischen Ölgemälde von Jakob Nussbaum finde ich bezaubernd und spannend. Sie zeigen das Mainufer in Frankfurt Anfang des 20. Jahrhunderts: Dokumente der Zeitgeschichte, mal idyllisch und mal industriell. Nussbaum, der im Ersten Weltkrieg an der Westfront diente, lehrte in Frankfurt ab 1926 an der Städelschule. Die Nazis entließen ihn 1933. Er emigrierte nach Palästina und starb dort 1936 im Alter von nur 63 Jahren.
Und es gibt noch so viel mehr jüdische Geschichten und Schicksale im Museum zu entdecken – erfolgreiche und erschütternde, herausragende und gewöhnliche.
Preisgekrönte minimalistische Architektur
Der 2020 neu eröffnete, sogenannte Lichtbau von Staab Architekten ergänzt das frisch renovierte Rothschild-Palais um eine wunderbar minimalistische Architektur. 2022 erhielt der Neubau den NIKE, den Preis des Bundesverbands Deutscher Architektinnen und Architekten. Zusammen bilden die beiden Gebäude ein stimmiges Ensemble aus alt und neu. Mir gefällt das neue Gebäude mit seinem lichtdurchfluteten Atrium aus Sichtbeton und Holzvertäfelung. Die dort untergebrachte Bibliothek ist so reizend, dass ich dort gerne mal lesend verweilen möchte. Der Deli direkt daneben bietet leckere Gerichte und von der Sommerterrasse aus den Blick auf eine Skulptur, die mich neugierig gemacht hat:
Zwei aufeinander gestapelte Bäume von Ariel Schlesinger
Im Zentrum des dreieckigen Hofes zwischen dem neuen und dem alten Gebäude steht eine beeindruckende Skulptur: Zwei übereinander gestapelte Bäume, deren Zweige sich ineinander verknäulen, sich aneinander festhalten. Der obere Baum steckt kopfüber auf dem anderen. Die Wurzeln ragen mächtig in den Himmel. Der israelische Künstler Ariel Schlesinger suchte sich für seine Skulptur Untitled ein Vorbild in der Natur: einen Ficus aus Norditalien. In einen vor Ort erstellten Abdruck des Baumes gossen Schlesinger und sein Team Aluminium für die beiden, sich ineinander spiegelnden Teile der Skulptur.
„Laut Ariel Schlesinger soll der tragende Baum immer lebendig sein, der entwurzelte hingegen tot: Er werde nie wieder grünen, Früchte tragen und Vögel in seinen Zweigen beherbergen, trage allerdings die Vergangenheit in sich – Last und Ansporn zugleich für den lebendigen Baum. Gemeinsam bilden die beiden Bäume eine Einheit und stellen ein Gleichgewicht her aus Leben und Zerstörung, Zukunft und Erbe.“ (Zitat Webseite des Jüdischen Museums)
Wie Ruth Fühner bei ihrem Besuch im Castello di Rivoli, Italien, bereits feststellte, erinnert die Skulptur sofort an Identità von Giuseppe Penone von 2017. Ob Schlesinger die Skulptur von Penone kannte, ist unklar. Der italienische Arte-Povera-Künstler beschäftigt sich in seiner Kunst schon lange mit Bäumen.
In Frankfurt steht vor der EZB seine Skulptur Gravity and Growth, ein 17 Meter hoher Baum mit stilisierten goldenen Blättern. Außerdem war Penone bei mehreren documenta-Ausstellungen in Kassel vertreten.
Fazit
Ich habe unglaublich viel in der umfangreichen Dauerausstellung entdeckt und gelernt. Die Geschichten der Frankfurter Jüdinnen und Juden sind multimedial und abwechslungsreich erzählt. Und: Wie im letzten Artikel bereits beschrieben, hat mich die Geschichte von Samson Schames sehr berührt. (link)
Das jüdische Museum lohnt unbedingt einen Besuch – am besten mit einer Führung.
Alte und neue Kunst im Jüdischen Museum Frankfurt – Britta Kadolsky
Beitragsbild: Außenansicht mit Lichtbau. Jüdisches Museum Frankfurt, Foto: Norbert Migluetz