Das Castello di Rivoli bei Turin ist ein Museum für Gegenwartskunst – und ein Ort, an dem sich die Künste und Zeiten alchemistisch miteinander mischen. Es ist das genaue Gegenteil eines White Cube – Räume, die von einer längst vergangenen Zeit und ihren überschäumenden Träumen erzählen. Das Schloss – im 13. Jhd. begonnen und zeitweise Sitz der Herzöge von Savoyen – wurde nie fertig gebaut. Im 19. Jhd. diente es als Kaserne, später zogen Werkstätten und Geschäfte ein, schließlich wurde es dem Verfall preisgegeben. In den 1960er Jahren begannen Restaurierungsarbeiten, 1984 wurde das Museum eröffnet. Glücklicherweise reparierten und übertünchten die Sanierer die Schäden nicht einfach, sondern erhielten die Anlage so, dass sie heute wie ein, freilich schwer beschädigtes, Musterbuch der Stile wirkt. Das hat zur Folge, dass man glatt durch die Ausstellungsräume gehen könnte und nur nach oben schauen – allein davon würde man schon satt. Von der großen nackten Backsteinkuppel über dem größten Saal, deren freigelegte, mächtige hölzerne Stützkonstruktion im Stockwerk darüber staunen macht.
Vom prachtvollen Stuck in den eleganten Räumen, die noch heute imperialen Anspruch ahnen lassen.
Von den mehr oder weniger abgeblätterten Fresken voll spielerischer barocker Lebensfreude.
Auf Augenhöhe wechseln sich Gipsbüsten und Marmor, echte Stuckierung und raffinierte Trompe l’oeils ab, die wirken, als wäre den Bauherren einst das Geld ausgegangen, und sie hätten sich begnügen müssen mit falschem Stoff statt echter Seide.
Und die groben Holzpaneele, die in manche Wände eingelassen sind – hingen da vorher Gemälde, die in der Not zu Geld gemacht wurden?
Mitunter ist es sogar riskant, auf den Boden zu schauen – derart trügerisch dreidimensional wirkt die Bodenmalerei, dass man fürchten muss zu stolpern.
Zeitgenössische Kunst in historischen Räumen
Ganz klar – Kunst, die sich in diesen Räumen behaupten will, hat es schwer. Oder ganz einfach, so wie die Wandmalerei von Sol LeWitt. Seine freskierten und weiß gerahmten einfarbigen Rechtecke wirken, in ihrer Reaktion auf die Proportionen des vorgegebenen Raums, als wären sie immer schon da gewesen. Wie eine überzeitliche, abstrakte Idee, die ihren reinsten Ausdruck gefunden hat.
Auf riesige Spiegelwände hat Michelangelo Pistoletto die lebensgroßen Fotografien von Menschen fixiert, die nun mit uns zusammen die Museumsräume bevölkern.
Und ja, auch das hängende Pferd des so oft als spekulativ gescholtenen Maurizio Cattelan passt hierher – hier scheinen Raum und Tier einander geradezu, wie in einer Apotheose, zu nobilitieren (und erinnern nicht, wie an anderen Ausstellungsorten, an eine Abdeckerei).
Mein Lieblingsraum im Castello di Rivoli ist einer, der wie aus einem Traum entsprungen scheint. Ein kleines, dunkles Kabinett, ein intimer Zwischenraum zwischen gläsernen Türen. „Charlie don’t surf“ heisst die Arbeit, ebenfalls von Maurizio Cattelan, die zur Zeit dort einquartiert ist: ein kleiner Junge im Hoodie, Gesicht zur Wand an einem Schultisch sitzend. Eine träumerische Erinnerung an Kindheit, Einsamkeit, Eingeschlossensein und Verlorenheit.
Ist dieses Kind der Vater jenes Mannes, den gleich nebendran Robert Wilson in ein lebensgroßes Video gebannt hat? Auf jeden Fall wirft die Nachbarschaft ein ganz neues, sehr kühles und einsames Licht auf den Strahlemann Brad Pitt.
Bilder vom Menschen: Beeple versus Bacon
Im überproportional langen und schmalen Anbau des Schlosses, dem „langen Ärmel“, der einst die Bediensteten, die Pferdeställe und die Kunstsammlung der Hausherren beherbergte, ist dann doch White-Cube-Atmosphäre spürbar, oder besser: White-Tube-Atmo. In dem 147 Meter langen Schlauch zeigt die Museumsdirektorin Carolyn Christov-Bakargiev, einst künstlerische Leiterin der dOCUMENTA (13) in einer äußerst sparsamen Schau eine frappierende Arbeit von Michael Winkelmann, der unter dem Namen Beeple vor einiger Zeit das erste NFT, Not fungible Token, ein lediglich virtuell vorhandenes Kunstwerk, für ein paar Millionen verkaufte. Im telefonzellengroßen, langsam sich drehenden Turiner Glaskasten läuft eine Art Astronaut durch eine menschenleere, ruinöse oder von Geistern bevölkerte Welt. Läuft und läuft und läuft, Schritt um Schritt und doch auf der Stelle – und kein einziges Bild wiederholt sich. Ein apokalyptischer Blick zurück aus der posthumanen Zukunft auf unsere Gegenwart soll das wohl sein. Ein Hologramm, das ein bisschen plakativ wirkt und, so mein Verdacht, vor allem durch programmiertechnische Perfektion fasziniert.
Gegenübergestellt ist dieser Arbeit Francis Bacons „Study for Portrait IX“ eins seiner düsteren, eingekastelten, von unauslöschlichem Schmerz verzerrten Menschenbilder. Das setzt nicht nur einen fast bescheiden wirkenden, in Wirklichkeit viel mächtigeren Kontrapunkt gegen die alles überstrahlende Videoskulptur. Wie eine Schwarzblende setzt es auch den Schlusspunkt unter einen Besuch, der eher von fröhlichen Augenfreuden geprägt war als von der dunklen Sicht auf die Welt.
Interessant (nicht nur) für FrankfurterInnen:
Vor dem Eingang zum Schloss steht eine Plastik aus zwei übereinandergetürmten Bäumen – man denkt sofort an Ariel Schlesingers Wahrzeichen für das Jüdische Museum Frankfurt. Der Rivoli-Baum allerdings trägt ein paar Spiegel in sich und ist von Giuseppe Penone.
Maurizio Cattelans „Charlie don’t surf“ wiederum hat einen Verwandten in Martin Honerts unheimlich stillen Knaben am Esstisch, der lange Zeit (allerdings von vorne – unvergesslich, dieser Blick!) im MMK zu sehen war.
Und schließlich gibt es gar nicht weit von Frankfurt ein Schloss, das eine ähnliche, vom Charme des Verfalls einer großen Vergangenheit geprägte Atmosphäre für Gegenwartskunst nutzt: die Ausstellungen des Kunstvereins Assenheim sind immer einen Besuch wert.
Castello di Rivoli bei Turin in Italien – Museum für zeitgenössische Kunst – Ruth Fühner