Ein Erlöser
Was für eine Erlöserfigur! Ein Trumm von einem Mann, geschlagen aus einem drei Tonnen schweren Eichenstamm. Ein Querschädel, die Arme weit ausgebreitet. Wären nicht die Speerwunde in der Seite, die Nagelmale in Händen und Füssen – man könnte diesen Christus für lebendig halten, so kraftvoll empfängt er die Besucher der sanierten Marienkirche in Aulhausen nahe Rüdesheim

Die Marienkirche
Errichtet im 13. Jahrhundert von Zisterzienserinnen, gehört sie zum ältesten Kern des St. Vinzenzstifts über Rüdesheim. Im Lauf der Zeit war der romanische Kirchenraum unter anderem ausgebrannt und als Abstellkammer genutzt worden – bis die Leitung des Stifts auf die Idee kam, sie wiederzubeleben. Keine leichte Aufgabe für den Architekten Stephan Dreier, der erstmal eine Betonempore und das unechte Gewölbe im Chor entfernen und das Fundament abstützen lassen musste, um den schlichten Eindruck des Ursprungs wieder herzustellen.
Der Auftrag für die künstlerische Neugestaltung der Kirche ging an das Frankfurter Atelier Goldstein. Eine ideale Paarung – denn im Atelier arbeiten ausschließlich Künstler mit dem, was man landläufig „Behinderung“ nennt – hauptsächlich Autisten oder Menschen mit Down-Syndrom. Und dass sie Künstler sind, daran lässt die Marienkirche keinen Zweifel. Julius Bockelt zum Beispiel, der die eindrückliche Christusfigur schuf.
Gottvater und Flatterwesen

Oder Andreas Skorupa, der die Fenster an den Schmalenden der Kirche gestaltete. Sie sehen aus wie das Werk eines Comiczeichners – nur ohne die Vorbehalte der zeitgenössischen religiösen Kunst. Wo sie sich wegduckt ins Abstrakte, tritt Gottvater hier im vollen Ornat auf, und die Heilige Dreifaltigkeit wird ergänzt durch ein kleines rotes Flatterwesen, dessen Identität der Künstler bewusst offen lässt. Nicht umsonst heißt das Glasfenster „Unbegreiflichkeit Gottes“, und es strahlt in einem satten Rosa, als wäre das Wort tatsächlich Fleisch geworden.

Sonst aber ist alles auf Zurückhaltung ausgelegt in diesem schönen kargen Raum. Schließlich verzichteten die Zisterzienserinnen bewusst auf allen kirchlichen Prunk und verpflichteten sich der Armut. Armut – das war auch das Thema, von dem die Zusammenarbeit zwischen Kirchenleuten und Künstlern in Aulhausen ihren Ausgang nahm. Ziemlich überraschend war die Anregung, die der ehemalige Limburger Bischof Franz Kamphaus, der seinen Lebensabend im Stift verbringt, in den ersten Workshop mitbrachte. Christiane Cuticchio, damals Leiterin des Atelier Goldstein, hatte sich auf eine theologische Lektion vorbereitet, auf Bibeltexte und Psalmen. Statt dessen las Kamphaus Kafkas „Hungerkünstler“ vor – komplett.
Scherenschnitt in Muschelkalk

Hoch und licht, in sanftem Weiß gekalkt, strahlt die „neue“ Marienkirche Geborgenheit aus. Die Umrisse der Namenspatronin hat Markus Schmitz in einer kleinen Nische wie einen zarten Scherenschnitt in Muschelkalk reliefiert.


Ein Vorhang trennt eine kleine Kapelle ab, auf ihn hat die gelernte Schneiderin Julia Krause-Harder ein Zitat des Ordensgründers Bernhard von Clairvaux genäht. Und in den Boden ist silbern glänzend die Silhouette eines riesigen Engelsflügels (gestaltet von der verstorbenen Birgit Ziegert) eingelassen – als ob er die Besucher sicher über alle Herausforderungen hinweg trüge.
Besucher willkommen

Und die Besucher sollen strömen! Zu Gottesdiensten, Hochzeiten und Taufen – oder, natürlich, um der Kunst willen. Für Caspar Söling jedenfalls, den Leiter des St. Vinzenzstiftes, ist die Aulhausener Kunstkirche Teil eines neuen Gesamtkonzepts: von einer Anstalt hin zu einer Einrichtung, die die Inklusion ernstnimmt und Neugier weckt auf beide Seiten: auf Menschen mit Beeinträchtigung und ohne.
Die Marienkirche in Aulhausen – gestaltet von Künstlern des Atelier Goldstein – Ruth Fühner