Das Blaue vom Himmel
Ruth Fühner
Lapis, Indigo und Waid – die Geheimnisse der Farbe Blau.
Keine Spur von Blau, auf diesem Bild der National Gallery in London. Es ist, da sind sich die Experten weitgehend einig, wohl ein echter Michelangelo – wenn auch nicht gerade einer seiner besten. Eine rätselhafte Grablegung aus dem Jahr 1501, mit einer Maria Magdalena in stumpf olivgrünem Kleid, einem Johannes in grellem Orange. Rechts unten in der Ecke aber ist die Leinwand weiß geblieben – die Umrisse einer knienden Figur, die fehlt: die Jungfrau Maria. Warum aber wurde das Bild nie zuende gemalt?
Blau sollte das Gewand werden, wie es einer Madonna zustand. Ungeduldig muss Michelangelo gewartet haben, dass ihm sein Auftraggeber das nötige Ultramarin für das Gemälde endlich zustellte. Es selbst zu besorgen, kam nicht in Frage – für hundert Gulden gab es nicht einmal ein Pfund davon zu kaufen, klagte, nördlich der Alpen, der damals schon wesentlich renommiertere Albrecht Dürer. Für den erst 25jährigen Michelangelo stand eine solche Investition außer Frage. So ging die Zeit ins Land, Michelangelo wurde nach Florenz zurückgerufen, um den David zu schaffen, und seine „Grablegung“ für die Kirche Sant‘ Agostino in Rom blieb für immer unvollendet.
Eigentlich kein Wunder, dass die Sache mit dem Blau sich so schwierig gestaltete – wenn man weiß, wie weit der Weg ist, den das Ultramarin zurückzulegen hatte, bis es endlich auf den Paletten italienischer Maler landete.
Der Stein, aus dem es gewonnen wird, der Lapislazuli, wurde und wird nämlich nur an einer einzigen Stelle auf der Welt abgebaut, in den Gruben von Ssar-e-Sangh im afghanischen Hindukusch. Von dort soll das Ultramarin Marco Polo mitgebracht haben – d.h. eigentlich hatte er das Minengebiet nur von weitem gesehen und sich davon erzählen lassen. Vom leuchtenden Blau der Adern, von denen die weißen Felsen durchzogen sind, dem Katzengold oder dem Pyrit, der die Stolleneingänge glitzern lässt wie den nächtlichen Sternenhimmel.
Von hier wurde vor 5000 Jahren Lapis Lazuli nach Ur in Chaldäa exportiert, wo er goldene Tierfiguren zierte, und nach Ägypten, wo der blaue Stein in die Totenmaske des jungen Pharao Tut-Ench-Amun eingelegt wurde. Doch lange, wohl bis ins 6. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, dauerte es, bis der Lapis zermahlen und als Pigment angewandt wurde – mit diesem ersten Ultramarin wurden, gar nicht so weit weg von Sser-e-Sangh – die Fresken-Hintergründe der berühmten Buddhas von Bamiyan gemalt, die die Taliban barbarisch zerstörten.
Der weite Weg nach Europa machte das Ultramarin schon teuer genug
Fast unerschwinglich machten es die griechischen und venezianischen Kaufleute, die den Lapis Lazuli übers Meer, also ultra mare brachten, und dabei einen kräftigen Profit einstrichen.
War aber der Stein erst einmal glücklich im Atelier des Malers angekommen, lag noch lange keine brauchbare Farbe vor. Jetzt war erst mal handwerkliche Arbeit gefragt, kam das eifersüchtig gehütete Geheimnis der Farbherstellung zum Einsatz, das von Lehrlings-Generation zu Generation weitergereicht wurde.
Das Rezept war im Fall des Ultramarins hochkompliziert. Cennino Cennini war es, der in seinem „Trattato della Pittura“ die insgesamt 49 Arbeitsgänge festhielt, deren es bedurfte, um aus einem Stück blauem Stein einen „Mantel unserer Lieben Frau zu machen: Fürs erste nimm Lapis Lazzari. Stampf ihn im Bronzemörser. Siebe und passiere nun nach Bedürfnis. Bist du in Ordnung mit diesem Pulver, so nimm sechs Unzen Fichtenharz vom Apotheker, drei Unzen Mastix, drei Unzen frisches Wachs auf je ein Pfund des Lapis Lazzari. Mache aus allem zusammen einen festen Kuchen. Diesen Kuchen musst du zum wenigsten drei Tage und Nächte stehen lassen und jeden Tag ein Stück umkneten“
Und so weiter, und so weiter. Cennini plauderte übrigens auch aus, wie man das kostspielige, aber höchst haltbare Ultramarin leicht durch billige, aber schnell verblassende oder sich gar verfärbende Pigmente ersetzen kann. Kein Wunder also, dass Auftraggeber, die etwas von der Sache verstanden, die genaue Qualität des Ultramarins notariell festhalten ließen – so wie im Jahr 1485 der ehrwürdige Messer Francesco di Giovanni Tesori. Er erteilte Michelangelos Lehrer Domenico Ghirlandaio den Auftrag, „eine Holztafel zu bemalen, die besagter Francesco hat anfertigen und bereitstellen lassen; welche Holztafel der besagte Domenico zu bezahlen hat; er hat die Tafel auf eigene Kosten zu kolorieren, mit guten Farben und mit gepudertem Gold bei jenen Ausschmückungen, die solches erfordern; und das Blau muss Ultramarin im Werte von etwa vier Florin die Unze sein …“
Warum aber musste es unbedingt Ultramarin sein? Sicher, das hatte auch mit dem symbolischen Wert der Farbe zu tun – das Blau des Himmels für die Himmelskönigin. Freilich gibt es viele, einander auch widersprechende Symbolsysteme. In jeder Kultur bedeuten Farben etwas anders und in jeder Epoche auch. Auf russischen Ikonen trägt Maria häufig Rot – in Russland die Farbe der Geburt, anderswo steht sie für Feuer und Tod. Manchmal ist sie weiß gekleidet – was ihre Unschuld symbolisieren soll; und in der byzantinischen Kunst sind Marias Gewänder violett, die Farbe des Mysteriums. Immer aber galt: für die Madonna, die Mutter Gottes, war das Kostbarste gerade gut genug. Und so trug sie im Byzanz des 7. Jahrhunderts auch deshalb Violett, weil violette Kleidung so teuer war, dass sie sich kaum jemand leisten konnte. Und als im 13. Jahrhundert das Ultramarin nach Italien kam, wurde sein tiefes Blau schnell zur kostbarsten Farbe – und damit gerade recht für den Mantel der Madonna.
Blau oder Rot?
Irritierend nur, dass es auch blaue Teufel gibt in der mittelalterlichen Malerei. Doch auch hier zeigt sich: mit religiöser Farbsymbolik hat das wenig zu tun – umso mehr mit wirtschaftlichen Hintergründen. Blau gegen Rot – ein regelrechter Farbenkrieg tobte im Mittelalter zwischen Krapp- und Waid-Händlern. Krapp, aus der gleichnamigen Wurzel gewonnen, färbt Textilien rot, Waid, eine einheimische Pflanze, die in Deutschland vor allem im Rheinland und in Thüringen angebaut wurde, färbt sie blau. Bis zum 12. Jahrhundert ist das Blau eine Farbe unter andern, dann tritt es – wohl gleichzeitig mit dem „königlichen“ Ultramarin – seinen Siegeszug an. Die Krapphändler wehren sich dagegen, wie sie nur können. Zum Beispiel, indem sie den Teufel blau darstellen lassen. Wie elend ihre Niederlage war, belegt die Tatsache, dass wir uns den Teufel heute spontan eher rot vorstellen.
Das Geschäft mit dem Waid blühte im 13. Jahrhundert besonders in Thüringen. Der Überlieferung zufolge streuten die Erfurter, wenn sie das Nest eines Raubritters ausgehoben hatten, auf die Ruinen des Schlosses Waid – als Signatur sozusagen. Die reiche Waid-Färbergilde gehörte zur Aristokratie der Stadt – ihrer Stiftung verdankt Erfurt seine berühmte Universität.
Der Färbeprozess war auch eine Wissenschaft für sich – ein wohlgehütetes Geheimnis, das die Färber nur innerhalb ihrer Gilde weitergaben.
„Wenn die Pflanze abgeschnitten ist, so wird sie ausgewaschen, getrocknet, auf der Waidtmühle gemahlen, dann in Bälle zusammengedrückt und auf Horden gelegt, dass sie ganz abtrocknen. Diese Bälle bringen nun die Bauren in die Städte zum Verkauf, wo der Waidt die zwote, oder künstliche Zubereitung erhält. Er wird nämlich zerklopft, auf Böden geschüttet, mit Wasser zu verschiednen Malen angefeuchtet, da er sich denn untereinander erhitzt und in Gärung gerät“ [Rechtschreibung im Original]
Eine höchst komplizierte Prozedur, die damit noch lange nicht an ihr Ende gekommen ist – und mit durchaus magischen Aspekten: denn die blaue Farbe erscheint erst, wenn der gefärbte Gegenstand aus dem gelben Wasser im Bottich gezogen wird.
Der Wohlstand der Waid-Färber bleibt nicht unangefochten. Im 17. Jahrhundert geht die thüringische Waidproduktion so zurück, dass von den 300 Dörfern, die ihn anbauten, nur noch 30 übrig bleiben. Der Grund: die Niederländer haben begonnen, Indigo aus Ostindien zu importieren. Eine dem Waid verwandte Strauchpflanze, die schon in Mesopotamien und Ägypten zum Färben von Mumienbinden verwendet worden war und viel intensiver blau färbt als Waid. Diesmal sind es die einheimischen Blau-Färber, die die Konkurrenten als Teufel denunzieren und das Indigo als „Teufelsfarb“ schlecht machen. Und die Obrigkeit, die um ihr Steueraufkommen fürchtet, gibt ihnen Recht.
In Sachsen stand sogar die Todesstrafe auf die Verwendung des Indigos. Allerdings ließ sich nachträglich kaum beweisen, welches Färbemittel verwendet worden war – und so lief es auf die Dauer auf eine Mischung beider Verfahren hinaus. Besonders als sich die neuerdings ebenfalls aus Indien importierte Baumwolle mit Waid nur schwer färben ließ, der Waid aber wiederum als Hilfe beim Fermentieren des Indigos entdeckt wurde. Am Schluss folgte auch die Obrigkeit salomonisch dem wirtschaftlichen Zug der Zeit. Hatte Kurfürst Friedrich Wilhelm am Ende des 17. Jahrhunderts die preußischblau gefärbten Uniformen eingeführt, um die Waidbauern zu unterstützen, wurde 1737 der Indigo aufgrund der besseren Färbeeigenschaften legalisiert und aus der „Teufelsfarbe“ der „König der Farbstoffe“.
Seit Januar 2001 übrigens unterstützt die EU mit drei Millionen Euro ein Projekt, das die Gewinnung von möglichst reinem Indigo aus einheimischen Pflanzen erforscht – zur Unterstützung einer nachhaltigen Agrarwirtschaft.
Noch einmal zurück zur Geschichte des königlichsten aller Blaus, zum Ultramarin. Natürlich verfügten die europäischen Malerpaletten schon vor Marco Polo über Blau.
Mit Azurit – das, da es von diesseits des Meeres stammte, auch Citramarin genannt wurde – mit Azurit also malte Michelangelo in seiner unvollendeten „Grablegung“ auch das Gewand der Maria Magdalena. Und zwar wasserblau. Das heutige Olivbraun rührt daher, dass das Azurit-Pigment lange nicht so farbecht ist wie das Ultramarin. Doch trotz seiner unbestrittenen Materialqualitäten geriet das Ultramarin in den Jahrhunderten nach der Renaissance ein bisschen aus der Mode. Nicht nur seines immer noch hohen Preises wegen. Je wichtiger es den Malern wurde, Natur abzubilden statt religiöser Symbolik zu folgen, desto mehr sank das Ultramarin in der Beliebtheit:
Trotzdem blieb das Ultramarin eine begehrte Farbe. So sehr, dass 1824 die französische „Gesellschaft zur Ermutigung der nationalen Industrie“ einen hohen Preis aussetzte für die „Entdeckung eines wohlfeilen Verfahrens zur Bereitung eines künstlichen Ultramarins, das dem aus dem Lasurstein gewonnenen vollkommen ähnlich wäre und zu 300 Franken je Pfund geliefert werden könnte.“
Das Rennen macht, gegen einen Konkurrenten aus Tübingen, der Chemiker Jean Baptiste Guimet aus Toulouse.
Erschwinglich ist das Ultramarin seither ohne Frage – nur ein Tausendstel dessen, was man für natürliches Ultramarin bezahlen müsste, kostet sein künstlicher Ersatz. Nur so, als billiges Massenprodukt, konnte das Ultramarin jene Überhöhung in der Kunst der Moderne erleben, die sich mit den riesigen monochrom blauen Schwämmen des Yves Klein verbindet.
(Siehe auch Artikel über Yves Klein hier auf dem Blog)
Literaturangaben:
– Victoria Finlay, Das Geheimnis der Farben. Eine Kulturgeschichte. Aus dem Englischen von Charlotte Breuer und Norbert Möllemann. Claassen, München 2002. 464 Seiten
– Michael Baxandall, Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts. Aus dem Englischen von Hans-Günter Holl. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt 1977. 196 Seiten
– Angelika Lochmann, Angelika Overath (Hg.), Das Blaue Buch. Lesarten einer Farbe. Greno, Nördlingen 1988
Das Blaue vom Himmel, Lapis, Indigo und Waid – die Geheimnisse der Farbe Blau.
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