Meine persönlichen Favoriten der 60. Biennale für zeitgenössische Kunst – Teil 1: Die Hauptausstellung
Ich liebe es, die Kunstbiennale in Venedig zu besuchen. 129 Jahre gibt es die Riesenshow nun schon.
Ich stürze mich mit Vorfreude-Kribbeln (Stendhal lässt grüßen) ins Kunst-Vergnügen: Der erste Tag ist komplett für das Arsenale reserviert (es regnet), am zweiten Tag gehe ich in die Giardini und am dritten Tag laufe ich durch die Stadt und klappere einzelne „Collaterali“ und Pavillons der Biennale in den prachtvollen Palazzi und Kirchen Venedigs, ab.
Foreigners Everywhere …
… so lautet der Titel der diesjährigen Hauptausstellung. Adriano Pedrosa, der brasilianische Kurator und erste Lateinamerikaner, der die Biennale leitet und kuratiert, wählte Fremde überall als Leitmotiv. Er spielt auf das Gefühl des Fremdseins vieler Exilanten an, und die Erkenntnis, dass wir alle und – annähernd – überall auch Fremde sind: Unsere Welt ist durch Migration verbunden und Adjektive wie einheimisch oder ausländisch verblassen zunehmend.
Diesmal wirken hauptsächlich Künstler:innen aus dem Globalen Süden, also Südamerika, Afrika, Australien und Asien mit: Es werden die bisher oftmals übersehenen Künstler:innen der indigenen Bevölkerung und der queeren Community ausgestellt. Damit möchte Pedrosa zur ‚Neuschreibung der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts‘ beitragen. Über die Hälfte der Künstler:innen ist schon tot. Das ist ein Kritikpunkt, aber Pedrosa weist darauf hin, dass ihre Kunstwerke im Hier und Heute eine absolute Relevanz hätten, und dass sie in den vergangenen Jahrzehnten schlicht übersehen wurden.
Das schaue ich mir genauer an. Hier meine 10 Favoriten, wobei die Reihenfolge keine Wertung darstellt – alle Positionen gefallen mir! Im ersten Teil schreibe ich über Künstler:innen in der Hauptausstellung und im zweiten Teil folgen die fünf großartigsten Pavillons.
1 – Claire Fontaine
Der Titel der Biennale-Hauptausstellung – Foreigners Everywhere – stammt vom Kollektiv Claire Fontaine, die wiederum von einem Turiner Kollektiv inspiriert wurden, das sich gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit einsetzte. Auf der Biennale sehen wir ihren Schriftzug Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere als farbige Neonröhren in 20 verschiedenen Sprachen, darunter auch solche die vom Aussterben bedroht sind. Ich mag Leuchtschrift-Kunst und im Arsenale vor dem italienischen Pavillon spiegeln sich die Wörter vielsprachig im Wasser und verdoppeln sich.
Das Kollektiv, das eigentlich ein britisch-italienisches Duo ist, gründete sich 2004 in Paris und leitet seinen Namen von einer bekannten Notizbuch-Marke ab. Seit ihren Anfängen betrachtet sich Claire Fontaine als feministische Readymade-Künstler:in und kritisiert mit ihren Werken das Patriachat, die kapitalistischen Strukturen des Kunstmarkts und die Verherrlichung des Künstlergenies. Dabei spielen textbasierte Arbeiten eine entscheidende Rolle.
2 – Yinka Shonibare Refugee Austronaut VIII
Der Astronaut mit dem dunklen Helm ist ein Eyecatcher. Der britisch-nigerianische Künstler erstellte die Skulptur eines lebensgroßen, nomadischen Astronauten, der einen bunten, mit afrikanischen Mustern verzierten, Astronautenanzug trägt. Der Netz-Rucksack offenbart sein Gepäck: Gaslaterne, Seil, Koffer, Kochtopf, Korb, Buch und vieles mehr. Utensilien, die man als Flüchtling mitnimmt. Shonibare, der zu den Young British Artists gehört (einer losen Gruppe britischer Künstler, zu denen auch Damien Hirst, Sarah Lucas oder Tracey Emin gehören), beklagt die Klimakrise. Seine Figur symbolisiert Klimaflüchtlinge, die wegen steigender Meeresspiegel oder langanhaltender Dürrekatastrophen ihre Länder verlassen müssen.
Kolonialismus und Globalisierung sind für den, in London geborenen und in Nigeria aufgewachsenen, Künstler die Ursache für die Vertreibung von Menschen. Eine Serie von Astronauten stellt Shonibare seit 2015 her. Der vermeintlich afrikanische Stoff ist das Markenzeichen seiner Kunst: Viele Skulpturen und Installationen hat er damit bereits überzogen (auch auf der documenta 11 und in London). Der ‚afrikanische‘ Stoff ist in China, Indonesien oder den Niederlanden für den afrikanischen Markt produziert worden – die Globalisierung macht’s möglich. Der 62-jährige Turner Prize – Gewinner trägt den Titel „CBE“, da er den britischen Ritterorden The Order of the British Empire verliehen bekam, der u.a. Verdienste im Bereich der Kunst honoriert. Zusätzlich ist Shonibare auch im nigerianischen Pavillon in der Stadt vertreten.
3 – Abstrakte Malerei von Maria Taniguchi
Die philippinische Künstlerin ist mit drei riesigen schwarzen Gemälden in der Hauptausstellung der Giardinivertreten. Sie lehnen an der Wand, statt zu hängen – das verleiht den Kunstwerken etwas Skulpturales. Als ich dicht davorstehe, erkenne ich, dass die Leinwand nicht einfach nur schwarz ist: Das Bild ist mit einem gleichmäßigen Raster überzogen und Taniguchi malte jedes einzelne kleine Rechteck mit einem dünnen Pinsel aus.
Dadurch changieren die Schwarztöne ins Graue und es entsteht der Eindruck einer Ziegelstein-Mauer. Eine bestimmte Menge an gemalten Rechtecken reflektiert jeweils ein Tagwerk – und jeder Tag ist anders. Eine sehr zeitintensive und disziplinierte Arbeit, die mich an Roman Opalka erinnert, der mit einem feinen Pinsel Zahlen bis ins Unendliche auf die Leinwand bringen wollte und seine Kunst komplett der Darstellung der Zeit widmete.
4 – Ich mag Textilkunst – auf der Biennale ist sie im Überfluss vorhanden
Die Arbeit von Pacita Abad möchte ich herausheben: Die Stoffcollagen der 2004 verstorbenen US-amerikanischen Malerin, die auf den Philippinen zur Welt kam, strahlen farbenfroh als großformatige Quilts im Arsenale. Sehr experimentierfreudig zeigt die Künstlerin auf dem von ihr mit Acryl bemaltem Stoff mit Stickereien, Pailletten und Knöpfen eine umfassende Erzählung. Filipinas in Hong Kong ist eine Bildergeschichte der Filipinas in unterschiedlichen Arbeitssituationen. In der oberen Hälfte des Bildes drängen sich Reklame-Schilder vor einem Hochhäuser-Dschungel, während unten Filipinas waschen, putzen, einkaufen und babysitten. Die größte ethnische Minderheit in Hongkong sind die Filipinas. Viele von Ihnen arbeiten als ausländische Haushaltshilfen für den Mindestlohn- oder weniger.
Auf Blend in Before You Blend Out sehe ich eine Frau, die im Sarong gekleidet ist und eine Baseball Kappe und ein T-Shirt der Yankees auf dem Kopf trägt: Abad erzählt von dem Spagat, sich als Immigrantin in eine neue Gesellschaft zu integrieren, ohne dabei ihre eigene kulturelle Identität zu verlieren. Haitans Waiting At Guantanamo Bay zeigt Menschen, die hinter einem – gestickten – Stacheldraht stehen und mich anschauen. Abstrakte, farbige Formen ergänzen die Erzählungen.
Die Künstlerin reiste sehr viel und lebte auf unterschiedlichen Kontinenten, was Inspiration für ihre Motive, aber auch den Gebrauch der unterschiedlichsten Materialien war.
5 – Der Goldene Löwe geht an das Mataaho Kollektiv
Die vier Māori-Frauen aus Neuseeland haben einen Goldenen Löwen gewonnen. Das großflächige Gewebe unter der Decke des Arsenale-Eingangs wirkt wie ein metallisch schimmerndes Zeltdach. Am schönsten ist das Schattenspiel, das die Arbeit auf den Boden und die Wände wirft. Das Werk ist inspiriert von Matten, die traditionell zu besonderen Ereignissen, wie Hochzeit, Geburt und Tod kunsthandwerklich von den Māori gewebt werden. Bei der Arbeit auf der Biennale benutzen die vier Frauen Reflektorband, das üblicherweise im Arbeitsschutz verwendet wird. Die Wahl des Materials lenkt die Aufmerksamkeit auf die oft übersehene gesellschaftliche Gruppe der Hilfsarbeiter. Ihre raumfüllenden textilen Installationen verbinden alte Traditionen mit modernen Materialien. Das Kollektiv war auch schon auf der documenta 14 vertreten.
Fazit
Venedig mutet wie Disneyland an, während in der Welt da draußen unzählige Probleme herrschen. Einen Untergang prophezeit man Venedig ja bereits seit vielen Jahren, aber noch immer hält sich die Serenissima.
Und die Kunst in den Hauptausstellungen? Es gibt unglaublich viel zu sehen – über 330 Künstler:innen. Einige Arbeiten sind großartig und ich habe sie mir mit begeistert angeschaut. Anderes fand ich auch langweilig. Insgesamt ist die Biennale konventionell kuratiert: Die Petersburger Hängung erschlägt mich in manchen Räumen. Es gibt viel Textil- und Keramikkunst, die mir oft zu handwerklich und zuweilen ethnokitschig vorkommt. Auf der anderen Seite: Kunst ist ein Spiegel der Gesellschaft und diesmal ist wirklich viel aus uns unbekannteren Länder gespiegelt worden: Das ist wertvoll!
Und ich finde es gut und richtig, dass nach jahrhundertelangem Fokus auf malende weiße Männer aus Europa und den USA der Schwerpunkt nun auf die marginalisierten Künstler:innen fällt. Ich hoffe, dass in naher Zukunft nicht mehr nach Herkunft und sexueller Orientierung eingeordnet werden muss, und alle künstlerischen Positionen im Dialog nebeneinander hängen/stehen können.
Hier gehts zum zweiten Teil der Highlights auf der Biennale in Venedig 2024: Die Fünf besten Pavillons
Und hier gehts direkt zum Artikel über den deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig 2024
Die Top 10 der Biennale in Venedig 2024 – Meine persönlichen Favoriten der 60. Kunstbiennale für zeitgenössische Kunst – Teil 1: Die Hauptausstellung – Britta Kadolsky