April, April: Die Kunst des Täuschens
britta kadolsky
Trompe-l’œil, Op-Art & Virtual Reality – Wie Kunst unsere Sinne täuscht
Täuschung fasziniert, weil sie unsere Wahrnehmung auf die Probe stellt. Ob als geschickter Streich oder meisterhafte Illusion – sie spielt mit Erwartungen und verblüfft uns immer wieder. Der 1. April gilt als offizieller Tag des Scherzes. Doch nicht nur im Kalender – auch in der Kunst gibt es Illusionen: von realitätsnaher Malerei bis hin zur Virtual Reality. Auf das Auge allein ist kein Verlass.
Künstlerinnen und Künstler verschiedener Epochen haben sich der Täuschung und Illusion verschrieben, um Betrachtende zu verblüffen. Hier zehn Beispiele, in denen nichts ist, wie es scheint:
Schon in der Antike – so die Anekdote von Plinius dem Älteren,
gab es Täuschung in der Malerei: Im berühmten Malerwettstreit zwischen Zeuxis und Parrhasios ging es darum, wer realistischer male.
Zeuxis malte Trauben so echt, dass Vögel sie für echte Früchte hielten und an ihnen picken wollten. Er glaubte, besser als sein Rivale Parrhasios zu sein – bis er auf dessen Bild hereinfiel. Parrhasios hatte einen Vorhang so täuschend echt gemalt, dass Zeuxis ihn wegziehen wollte.
Trompe-l’œil – Wenn Malerei zur Realität wird
„Täuschung des Auges“ – genau das bedeutet Trompe-l’œil, ein Begriff aus dem Französischen, der eine ganz besondere Kunstform beschreibt: Die perfekte Illusion. Was in Wahrheit flach ist, wirkt plötzlich greifbar. Was gemalt ist, scheint dreidimensional. Ein Spiel mit Schein und Wirklichkeit, das die Sinne in die Irre führt.
Diese meisterhafte Technik, seit der Antike bekannt, erlebte ihre große Blütezeit in Renaissance und Barock – dort, wo Decken nicht nur Decken waren, sondern Tore zum Himmelreich.

Ein Paradebeispiel: Michelangelos weltberühmtes Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle. Wer nach oben blickt, glaubt kaum, was er sieht: die Erschaffung Adams, bei der sich die Finger Gottes und Adams, beide auf Wolken sitzend, fast berühren. Rund um diese Szene: Propheten, die scheinbar auf steinernen Gesimsen sitzen, Sibyllen, nackte Jünglinge in Bewegung – und jede Menge architektonische Elemente in einem riesigen Wimmelbild. Alles gemalt – und doch so real, dass man fast erwartet, ein Getöse von oben zu hören.

Auch Andrea Mantegna spielte virtuos mit der Wahrnehmung: In seinem Deckenfresko im Palazzo Ducale in Mantua öffnet sich der Raum scheinbar nach oben – ein gemaltes „Loch“ in der Decke, das an die Kuppel des Pantheons in Rom erinnert. Der Blick fällt auf einen heiteren Himmel, durchzogen von Wolken, umrahmt von einer Balustrade, auf der Putten herumturnen. Einer von ihnen zeigt dem Betrachter frech sein Hinterteil. Was wie ein Moment des Zufalls wirkt, ist in Wahrheit eine raffinierte Choreografie aus Perspektive, Licht und Humor.

Und schließlich: Giambattista Tiepolo – der große Illusionist des Barocks. In der Würzburger Residenz schuf er das größte Deckenfresko der Welt. Die Decke des Treppenhauses verwandelt sich unter seinem Pinselstrich in einen endlosen Himmel, erfüllt von dramatischen Wolken und fliegenden Gestalten. Alles wirkt leicht, fast schwerelos – als hätte die Architektur selbst das Atmen gelernt. Tiepolos Werk ist ein barockes Gesamtkunstwerk – und ein Meisterstück der Raumtäuschung.

Auch heute lebt Trompe-l’œil weiter – nicht in Palästen, sondern auf Straßen und Häuserwänden: Riesige Fassaden verwandeln sich in Fenster, Treppen oder ganze Landschaften, die Passant:innen innehalten und zweimal hinschauen lassen.
Täuschung in der modernen und zeitgenössischen Kunst

Wer einmal vor einem Bild der britischen Künstlerin Bridget Riley stand, weiß, wie es sich anfühlt, den eigenen Augen nicht mehr zu trauen. Das Bild scheint sich zu bewegen – obwohl es völlig still ist. Wellenlinien tanzen über die Fläche, Linien flirren, Kontraste pulsieren. Das Auge sucht Halt, das Gehirn kommt ins Stolpern – und plötzlich stellt sich ein seltsames Schwindelgefühl ein. Genau das ist der Effekt der Op-Art: einer Kunst, die nichts darstellen will, sondern unsere Wahrnehmung selbst zum Thema macht. Künstler:innen wie Riley experimentierten mit geometrischen Formen und klaren Mustern – und schufen Bilder, die vibrieren. Alles ist da – und gleichzeitig im Begriff, sich aufzulösen.

Jeff Koons’ Lobster sieht aus wie ein aufblasbares Spielzeug für den Pool: billig, bunt, aus Plastik. Man erkennt die typischen Falten, die versiegelten Foliennähte, sogar eine Schweißnaht auf dem Rücken. So echt, dass man fast den Geruch von Plastik in der Sonne wahrzunehmen glaubt. Doch der Schein trügt: Das knallrote „Wasserspielzeug“ ist aus Aluminium. Ein hochpräziser Abguss, (nicht nur) farblich exakt dem Original nachempfunden – das selbst schon eine Nachahmung der Natur ist.
Koons spielt also gleich mehrfach mit unserer Erwartung und mit der Bedeutung von Material. Denn was aussieht wie billige Plastikfolie, ist in Wahrheit hochwertiges Metall. Während Künstler früher mit einfachen Mitteln teure Materialien imitierten, kehrt Koons diesen Trick um: Er täuscht das Günstige vor, obwohl dahinter aufwendig gearbeitete Kunst steckt. Seine Werke sind Teil der Neo-Pop-Ästhetik und führen uns vor Augen, wie leicht sich Wert, Echtheit und Bedeutung ins Gegenteil verkehren lassen.

Eine Teekanne ist auf der rechten Seite scheinbar geschmolzen – als hätte sich das Porzellan einfach verflüssigt. So zeigt sich Livia Marins Werkserie Nomad Patterns von 2018. Die in London lebende chilenische Künstlerin ist bekannt für die Verfremdung von Alltagsgeschirr: Tassen und Kannen – vertraute Dinge, die sie auf magische Weise surreal erscheinen lässt. Marin spielt mit kitschigen Blumenmustern und industriellen Drucktechniken, die sie auch auf die scheinbar zerfließenden Segmente überträgt. Und wir staunen: Die Gegenstände können nicht mehr benutzt werden – sind sie nun noch etwas wert?

Da es sich um Alltagsgegenstände aus der Massenproduktion handelt, betrachtete ursprünglich niemand das Tee-Geschirr aufmerksam. Die Transformation zur Kunst macht die Objekte jedoch einzigartig und wertvoll: Ein Stück verkauft die Galerie für 2.000 Euro.
Virtuelle Welten – reale Reaktionen
Auch in der zeitgenössischen Kunst bleibt die Illusion ein zentrales Thema – heute digital, immersiv und körperlich erfahrbar: Virtual Reality eröffnet neue Räume der Täuschung, in denen das Auge alles bestimmt – sogar den Körper.

Ich erinnere mich noch gut an eine Ausstellung im Frankfurter Kunstverein, auch wenn sie schon einige Jahre zurückliegt. ToastVR hieß das Projekt von Richard Eastes, Toni Eastes und Daniel Todorov. Die Installation Plank Experience war schlicht: eine einfache Holzplanke lag auf dem Boden. Doch mit der VR-Brille vor den Augen verwandelte sie sich in ein Sprungbrett inmitten einer Hochhauskulisse. Unter mir: Schluchten so tief wie der Grand Canyon. Ich wusste, dass ich sicher war, dass da nur ein paar Zentimeter Holz lagen – aber mein Körper glaubte etwas anderes, während ich mich Fuß für Fuß vorwärts tastete. Jeder Schritt fühlte sich wie ein Risiko an. Mein Herz raste. Ich kannte Höhenangst bis dahin nicht – aber plötzlich war sie da.
Solche Werke zeigen, wie stark Kunst heute unsere Sinne beeinflussen kann. Täuschung findet nicht mehr nur im Bild statt – sie greift nach unserem Gleichgewicht, unserem Atem, unserem Vertrauen in die Wirklichkeit.
Fazit: Die Kunst der Täuschung – ein Fest für die Sinne
Täuschung in der Kunst ist weit mehr als bloßer Trick oder Effekt – sie ist ein Spiel mit Erwartungen, eine Einladung zum Staunen und ein Spiegel unserer Wahrnehmung. Wenn wir auf eine gemalte Decke blicken, die sich wie der Himmel öffnet, wenn uns ein Objekt aus Aluminium an aufgeblasenes Plastik erinnert oder eine virtuelle Planke echtes Herzklopfen auslöst – dann ist die Überraschung perfekt. Die Kunst lügt – aber mit so viel Raffinesse, Witz und Tiefe, dass wir ihr nur zu gern glauben.
Illusion ist eines der ältesten – und zugleich lebendigsten – Werkzeuge der Kunst. Und meine Bewunderung für die Künstlerinnen und Künstler, die diese Täuschungen erschufen, bleibt groß.
Wer noch tiefer eintauchen will: Ich habe bereits Artikel über weitere Meister der Illusion geschrieben – etwa über Thomas Demand, der mit Papier ganze Räume baut, JR, der Stadtbilder mit Fotokunst verwandelt, oder Maurizio Cattelan, der selbst den Papst zu Fall bringt.
Denn eins ist sicher: Die Kunst täuscht – und wir lassen uns gern verführen.

April, April: Die Kunst des Täuschens – britta kadolsky
Trompe-l’œil, Op-Art & Virtual Reality – Wie Kunst unsere Sinne täuscht
Beitragsbild: eine optische Täuschung, Kora27, CC BY-SA 4.0
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