Blut, Fleisch, Kot: Ungewöhnliche Materialien in der Kunst:
britta kadolsky
Blut in der Kunst: Vom Symbol zum Werkstoff
Eine Skulptur aus Blut: Alle fünf Jahre fertigte der britische Künstler Marc Quinn eine Büste von sich an – aus seinem eigenen Blut. Bei seiner Skulpturenserie Self entnimmt er sich über mehrere Monate hinweg insgesamt 4,5 Liter. Diese gießt er in eine Abgussform seines Kopfes und friert das Ganze in einer Tiefkühltruhe bei -18 Grad Celsius ein. Eine eigens konzipierte Vitrinen-Tiefkühltruhe ermöglicht die Ausstellung der gefrosteten Plastik.


Diese ungewöhnlichen Selbstporträts sehen, mit ihrem ins Bräunliche gehenden Rotton, erst mal gar nicht wie gefrorenes Blut aus. Marc Quinns Augen sind geschlossen und erinnern an eine Totenmaske aus farbigem Gips oder Ton. Auf der feinporigen Oberfläche ist jedes Härchen und jede Falte sehr genau zu erkennen.
Self thematisiert gleichermaßen Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit des menschlichen Körpers wie den Wunsch, Antlitz und DNA über den Tod hinaus zu bewahren. Nur mit ununterbrochener Stromzufuhr besteht der Kopf aus Blut weiter – ein Ausfall der Kühlung führt zur Auflösung des Werkes: als Pfütze. Bleibt die Kühlkette erhalten, können die gefrorenen Skulpturen den Künstler überleben – ein wahrhaft blutiger Weg zur künstlerischen Unsterblichkeit!
Zitat Quinn: »It depends on my life to be created – it’s made from the substance of me; and so I think of it as the purest form of sculpture to sculpt your own body, from your own body.«

Blut hat in der Kunstgeschichte oft als kraftvolles Symbol für Leben, Tod, Opfer und Transformation gedient. Von religiösen Darstellungen wie der Kreuzigung Christi, verbunden mit der Sehnsucht nach Ewigkeit, bis zur zeitgenössischen Kunst wie bei dem Wiener Aktionskünstler Hermann Nitsch, der in den Aktionen seines Orgien-Mysterien-Theaters Blut in Hektolitern verschüttete.

In den 1970er Jahren begannen feministische Künstlerinnen die Menstruation zu thematisieren: Judy Chicago fotografierte eine Frau, die sich einen blutigen Tampon aus der Vulva zieht, und auch Pipilotti Rist feierte in ihrem Video Blutclip die monatliche Blutung der Frau.
Die Tabuisierung der Periode hatte übrigens zur Folge, dass Menstruationsblut in der Werbung immer nur als blaue Flüssigkeit gezeigt wurde. Erst 2016 war in einem Werbespot erstmals eine rote Flüssigkeit zu sehen.
Fleisch als Kunstmaterial: Das unheimliche Kleid von Jana Sterbak

Ein weiteres außergewöhnliches Material in der Kunst ist Fleisch. Die kanadische Künstlerin Jana Sterbak sorgte mit ihrem Werk Vanitas: Flesh Dress for an Albino Anorectic für Aufsehen. Das einteilige, ärmellose, wadenlange Kleid besteht aus etwa 50 Pfund zusammengenähten Lappen aus Ochsenfleisch. Ganz frisch erstellt, wirkt die rote Oberfläche des Kleides blutig. Anlässlich einer Ausstellung in Montreal 1987 trug eine junge Frau das Kleid direkt auf ihrer nackten Haut: Fast sieht es aus, als ob sie das eigene, ungeschützte Fleisch präsentieren würde, was den unheimlichen Effekt noch steigerte. Der Anblick beunruhigt und ist abstoßend – schließlich sind wir gewohnt, Fleisch nur in gegarter Form auf unserem Teller zu sehen.
Sterbak wollte einen Gegensatz zur „cleanen Medienkunst“ schaffen. Der Titel erwähnt neben dem Thema der Vergänglichkeit (Vanitas) auch, dass es sich um ein Kleid für einen magersüchtigen Albino handeln soll: Es geht um den Modemarkt und Frauen, die dadurch in eine Magersucht getrieben werden. Der Körper unterliegt vielen Konventionen, er altert, wie das Fleischkleid, das anfangs frisch, wie ein lebendiges Objekt wirkt. Nachdem es trocknet, verliert es die blutige Farbe und damit auch seine provokante Erscheinung. Für die Ausstellung im Museum werden die Fleischkleider einer Schneiderpuppe übergezogen und durch die Zugabe von Salz zu konservierten, faserigen Patchwork-Kleidern, bei denen die Nähte sein ‚Gemacht-Sein‘ offenbaren.

Knapp 25 Jahre später trug Lady Gaga bei einer Preisverleihung des MTV Video Music Awards ein Kleid aus Fleisch: Die Sängerin wollte ihr Dress als Kritik an einer Objektifizierung der Frau verstanden wissen.
Der britische Künstler Damien Hirst sagt zur Verwendung von Fleisch als künstlerisches Material: „Kunst ist immer eine Reflexion über Leben und Tod. [] Wenn man versucht, das Leben zu verstehen, kommt man immer an den Punkt, wo man über den Tod nachdenken muss.“ Hirst, führendes Mitglied der Young British Artists, ist vor allem für seine provokanten Werke mit toten Tieren bekannt. In seiner Serie „Natural History“ konserviert er Haie, Kühe und Schafe in riesigen, mit Formaldehyd gefüllten Glastanks.

Eines seiner bekanntesten Werke, The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living von 1991, zeigt einen in Formaldehyd eingelegten Tigerhai.
Kot in der Kunst: Kritik, Provokation und Tabubruch
Große Empörung und viel Unverständnis löste ein Haufen Fäkalien aus: Kot als künstlerisches Material scheint noch provokanter. Der italienische Konzeptkünstler Piero Manzoni verpackte 1961 seine eigenen Exkremente in Dosen: Merda d’Artista. Er verkaufte sie als Kunstwerke und kritisierte damit die zunehmende Kommerzialisierung der Kunstwelt.

Manzonis Werk besteht aus 90 durchnummerierten Dosen, die jeweils 30 Gramm seiner eigenen Exkremente enthalten. Der Kot kommt buchstäblich aus dem Innern des Künstlers– etwas das im Zusammenhang mit dem Mythos des Künstler-Genies als besonders ironisch aufgefasst werden kann – kommen doch auch Kreativität und künstlerische Gesten aus dem „Innersten“ eines Künstlers.
Da Manzoni jede Dose nach Gewicht zum Tagespreis des Goldes verkaufte, waren die Fäkalien buchstäblich Gold wert. Sämtliche Dosen wurden verkauft und befinden sich heute in verschiedenen Sammlungen weltweit. Angeblich soll Manzonis Vater, ein Dosenfabrikant, seinen Sohn mit den Worten: „Deine Arbeit ist Scheiße!“ zu diesem Werk inspiriert haben.
Seltsamer Fun Fact: Immer wieder wird die Frage gestellt, ob sich tatsächlich Fäkalien in den Dosen befinden. Das Röntgen einiger Dosen ergab keinen Aufschluss und eine Jahre später geöffnete Dose gab ein angeblich nicht identifizierbares Objekt frei. Es ist also immer noch nicht eindeutig geklärt.

Der britische Künstler Chris Ofili verwendet Elefantendung in seinen Gemälden. Sein bekanntestes Werk The Holy Virgin Mary von 1996 zeigt eine schwarze Madonna mit Collage-Elementen aus Perlen und Elefantenmist. Auch hier löste das Material Kot heftige Kontroversen aus. So überdachte der damalige Bürgermeister New Yorks, Guiliani, öffentlich die finanziellen Zuwendungen für das Brooklyn Museum of Modern Art, wo das Werk hing. Der als Sohn nigerianischer Eltern in England aufgewachsene Ofili greift in dem Bild afrikanische Elemente auf: die bunten Perlen verweisen auf die billige Tauschware der europäischen Kolonialherren, der Elefantendung diente als Dünger für den Boden und als Brennstoff.
Fazit
Blut, Fleisch und Kot sind organische Materialien und rufen Störgefühle hervor, wenn sie in der Kunst verwendet werden. „Unartiges“ – so nannte Günther Uecker mal die vermeintlich unkünstlerischen Materialien. Als kontroverse Ausdrucksmittel brechen sie Tabus rund um Themen wie Leben und Tod, Vergänglichkeit und Körperlichkeit und verletzen bewusst die Grenzen zwischen dem Schönen und dem Abstoßenden.

Ungewöhnliche Materialien in der Kunst: Blut, Fleisch, Kot – britta kadolsky
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