Andreas Mühe – Im Banne des Zorns
britta kadolsky
Vom Zorn zur Gewalt: Mühe zeigt die Gesichter des Terrors
Kommen manche Menschen bereits kriminell auf die Welt? Eine provokante Frage. Andreas Mühe stellt sie. Und beantwortet sie auch.
Sechs große Fotos zeigen weiße Totenmasken. Sie stammen von Gesichtern, die wir alle schon gesehen haben. Trotzdem erkenne ich keinen Menschen – ich kann nicht mal mit Sicherheit sagen, ob das Bild ein Frauengesicht oder ein Männergesicht zeigt. Die Werkserie von 2023 heißt RAFNSU. Nun wird einiges klarer, allerdings erkenne ich immer noch keinen Terroristen, keine Terroristin.
Die ersten drei Fotos zeigen Mitglieder der RAF: Jan Carl Raspe, Gudrun Ensslin und Andreas Baader. Es folgen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe – der NSU. Alle sechs Personen eint der Zorn, die Radikalisierung und der Wille zur Gewalt: Während die in der BRD aufgewachsenen RAF-Terrorist:innen den Staat durch Morde an Führungskräften aus Politik und Wirtschaft destabilisieren wollten, ermordeten die in der DDR groß gewordenen NSU-Terrorist:innen gezielt Menschen mit Migrationshintergrund.

Weder die linksextremistischen Mitglieder der RAF noch die rechtsextremistischen Mitglieder der NSU kamen als Verbrecher auf die Welt, aber alle haben gemordet. Der Vergleich der beiden Gruppen zeigt, dass unterschiedliche ideologische Hintergründe zu ähnlicher Gewalt führen können. Während die einen den Kapitalismus bekämpften, richtete sich der Hass der anderen gegen Minderheiten.
Doch die zentrale Frage bleibt: Welche gesellschaftlichen, politischen oder persönlichen Umstände treiben Menschen dazu, zu töten? Mühes Werk fordert uns auf, über Radikalisierung, soziale Prägung und die Verantwortung der Gesellschaft nachzudenken.
Wie Mühe die nationalsozialistische Bildsprache entschlüsselt
Ein junger Mann in Wehrmachts-Uniform steht stramm: Die Frisur ist akkurat, der Kopf gesenkt, die Hände streng an den Beinen. So standen die Soldaten vor Hitler. Der Mann auf Mühes Foto steht allein, wie von einem Scheinwerfer beleuchtet, in einem unklaren Raum. Der schwarze Hintergrund spiegelt mich wider, ich werde Teil des Bildes. Was verbindet mich mit dem Nazi? Raffiniert ist das Bild des gleichen Mannes daneben – nackt. Hat er nichts zu verbergen? Doch seine Haltung verrät ihn auch ohne Uniform als Soldaten.


Andreas Mühe, Werkserie Obersalzberg, 2010-2012, Ausstellungsansicht: Im Banne des Zorns, Kunststiftung DZ Bank 2025
Leni Riefenstahls Filme prägten die Bildsprache der Nazis. Walter Frentz, ihr Kameramann, drehte Propagandafilme für die Nazis. Er war nicht in der NSDAP, trat aber der SS bei und unterstützte die faschistischen Ideen. Bis zu seinem Tod 2004 distanzierte er sich, wie auch Riefenstahl, nie von Hitler. Frentz fotografierte Hitler oft von unten: Das verlieh Erhabenheit. Mühe hingegen fotografierte den Soldaten von oben, was das Heroische mindert: Interessant, wie Fotografie Macht darstellt. Ein Perspektivwechsel kann Zwerge erhaben wirken lassen und umgekehrt.
Die beiden Fotos gehören zu Andreas Mühes Werkreihe Obersalzberg: Bilder der Berchtesgadener Alpen, wo Hitler einst lebte.

Bällebad aus Plüsch-Bunkern

Und was machen die ganzen Plüschtiere im hinteren Raum? Bei genauerem Hinsehen erkenne ich: Es sind keine harmlosen Tiere, sondern Bunker aus Plüsch. Dort, wo Käthe-Kruse-Puppen in liebevoller Handarbeit entstehen, lässt Andreas Mühe seine Bunker-Skulpturen fertigen – nachhaltig: In Naumburg bei der Kösener Spielzeugmanufaktur. Ein Bunker symbolisiert sowohl Angriff als auch Schutz.

Mühe orientierte sich an den Bunkern des Atlantikwalls. Hier in der Ausstellung sind sie so flauschig und klein, dass man vergisst, dass beim Bau während des 2. Weltkriegs, einst 100.000 Zwangsarbeiter schuften mussten. Ich ziehe die Schuhe aus und tauche ins Bällebad. Ein himmelblauer Glasfaserbunker aus DDR-Spielplatz-Zeiten ragt in der Mitte empor. Mühe verstärkt die Kinderspielplatz-Idee mit Fotos von Zinnsoldaten an der Wand. Subtil, wie Militarismus und Krieg unterschwellig in den Kinderalltag einziehen.
Eine eigene Welt hinter Mauern – die SED-Siedlung Wandlitz
Hinter der Werkreihe Wandlitz, die an die Fotos von Hilla und Bernd Becher erinnert, verbirgt sich eine spannende Geschichte. Die zwanzig Wohnhäuser der Waldsiedlung Wandlitz, nördlich von Berlin, entstanden zwischen 1958 und 1960 für die SED-Politbüro-Mitglieder in Brandenburg. Sie wirken fast gespenstisch. Mühes Fotografien zeigen die Häuser isoliert und von Dunkelheit umgeben, als wären sie Kulissen eines düsteren Theaterstücks.


Andreas Mühe, Wandlitz O und P, 2011, aus der Serie Wandlitz © Andreas Mühe, VG Bild-Kunst 2025
Die isolierte Funktionärssiedlung war durch eine acht Kilometer lange, hohe Betonmauer geschützt. Sie diente den Genossen des Politbüros, darunter Erich Honecker, Walter Ulbricht, Erich Mielke und Egon Krenz, als Wohn- und Rückzugsort mit exklusiver Versorgung und strenger Sicherheitskontrolle. Die Funktionäre lebten in einer eigenen Welt, umgeben von viel Grün. Die Versorgung war besser als die des DDR-Volkes, doch so luxuriös, wie viele dachten, waren die Häuser nicht. Abgeschottet von der Bevölkerung traf Honecker einige Fehlentscheidungen, besonders 1989 im Jahr des Mauerfalls: Er glaubte, mit einer Propaganda-Rede die Proteste beenden zu können.
Unter jedem Dach ein Ach – Mischpoche
In zwei großformatigen Familienporträts vereint Mühe lebende und verstorbene Verwandte beider Elternseiten. Die Toten wurden als täuschend lebensechte Skulpturen anhand von Fotos rekonstruiert. Eine britische Firma, bekannt für die Wachsfiguren von Madame Tussaud, übernahm diese aufwendige Arbeit. Die inszenierte Familienfeier mit Lebenden und Toten wirkt unheimlich. Die Verstorbenen erscheinen als 40-Jährige, sodass Großeltern, Eltern und Kinder gleich alt wirken. Diese irritierende Szene mit Geistern der Vergangenheit erinnert an ein Filmstill aus einer Telenovela: Die Familienmitglieder stehen distanziert, nicht wohlgesonnen, zueinander. Der Titel verbindet den jüdischen Begriff Mischpoke für Familie mit Epoche, beides spiegelt sich in den Fotos wider.

Ich erkenne Ulrich Mühe, den berühmten Schauspieler aus „Das Leben der Anderen“ und 2007 verstorbenen Vater von Andreas Mühe, mit seinen drei Ehefrauen. Auch seine Halbschwester, die Schauspielerin Anna Maria Mühe, ist auf dem Foto zu sehen.
Andreas Mühe beschäftigt sich mit der deutschen Geschichte
Andreas Mühe, 1979 in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) geboren, zählt zu den führenden zeitgenössischen Fotografen Deutschlands. Seine Werke erforschen intensiv die deutsche Geschichte, Machtinszenierung und sezieren gesellschaftliche Strukturen. Mühe begann mit Auftragsarbeiten für Magazine – oft mit Politikern. Angela Merkel fotografierte er besonders häufig, lehnt jedoch den Begriff ‚Kanzlerfotograf‘ ab.
Seine Bilder sind keine Schnappschüsse, sondern sorgfältig inszeniert. Schon die Wahl des Fotoapparats – eine analoge Großbild-Plattenkamera – erfordert eine sorgfältige Vorbereitung und lange Belichtungszeiten.
Fazit
Andreas Mühe fotografiert die Macht mit distanzierter, fast malerischer Ästhetik. Er inszeniert Menschen, Landschaften und Häuser wie auf einer Bühne. Seine Fotografien stellen stets die Geschichte der BRD und der DDR in den Mittelpunkt. Sie bieten eine wunderbare Gelegenheit zur Selbstreflexion. Beim Betrachten seiner Fotos frage ich mich, wo ich war, als diese historischen Ereignisse stattfanden.
Eine intensive Ausstellung, besonders relevant in diesen unruhigen Zeiten.

Andreas Mühe parallel in der Galerie Anita Beckers
Die parallele Ausstellung in der Galerie Anita Beckers ergänzt die sechs großformatigen Totenmasken-Fotos der Serie RAFNSU von Andreas Mühe in der Kunststiftung der DZ Bank. In der Galerie zeigt Mühe beklemmende Innenräume der deutschen Geschichte: Die RAF-Zellen in Stuttgart-Stammheim und den NSU-Jugendclub in Jena. Durch die weißen Masken werden die Menschen gesichtslos. Es lässt die links- und die rechtsextremistischen Mörder gleich aussehen.
Andreas Mühe erzählt mit seinen Fotos eine deutsch-deutsche Geschichte der jüngeren Vergangenheit. Die Geschichten sind unterschiedlich, aber sie gleichen sich auch.
Andreas Mühe – Im Banne des Zorns – britta kadolsky
Titelbild: Andreas Mühe, Andreas weiss, aus der Serie: RAFNSU, 2023, © Andreas Mühe, VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Weitere Artikel über Fotografie gibt es hier:
- Kunst und Kamera: Die vergessene Geschichte der Fotografinnen
- Thomas Demand, der Künstler hinter den täuschenden Fotografien
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