Die Zahl 100 in der Kunst: Symbolik und Bedeutung
britta kadolsky
Anlässlich meines 100. Artikels
Die Zahl 100 ist mehr als eine Ziffer – sie symbolisiert Ganzheit, Vollständigkeit und manchmal sogar Unendlichkeit:
- Im Alltag begegnen wir der Zahl 100 in der Mathematik (100 Prozent), in der Zeitrechnung (Jahrhunderte) und im Finanzwesen (100 Cent = 1 Euro)
- In der chinesischen Kultur steht die Zahl 100 für Glück
- Die Redewendung „100 Punkte“ lobt eine gute Leistung
- Mehr als 100% kann man nicht erreichen
- Für Albert Einstein markierte die 100 einen persönlichen Wendepunkt: nach 99 Fehlversuchen löste er beim hundertsten Versuch endlich sein Problem
- Es gibt sogar ein eigenes Emoji: 💯
- Der italienische Dichter Dante Alighieri wählte 100 Gesänge für seine „Göttliche Komödie“ als Symbol der Vollendung

Auch in der Kunst hat die 100 eine besondere Bedeutung: Sie steht für unendliche Möglichkeiten, Serialität, aber auchBegrenzung. In diesem Artikel stelle ich fünf Kunstwerke vor, die nicht nur „100“ im Titel haben, sondern auch grundlegende Kunstfragen aufwerfen.
1. 100 Cans von Andy Warhol: Konsum in Serie
Fast jeder kennt Andy Warhols berühmte Tomatensuppendose. Die Campbell’s-Dosen prägten den Alltag der Amerikaner und standen für Massenproduktion und Konsum.

Warhol malte alle 32 Suppensorten, die Campbell’s anbot. Ein Jahr später verdeutlichte er den Massenaspekt mit seinem Werk 100 Cans. Auf den ersten Blick wirken die Suppendosen alle gleich, doch bei genauerem Hinsehen zeigen sich Unterschiede: Der Schwarzanteil im Wort „Soup“ variiert, und der Schriftzug „Campbell’s“ erscheint nicht immer gleich klar. Diese Mischung aus Gleichförmigkeit und subtilen Abweichungen zeigt, dass die Pop Art anfangs noch handgefertigt war. Warhols Technik entwickelte sich: 1962 malte er per Hand und mit Schablonen, später nutzte er die Siebdrucktechnik, um Kunstwerke in Serie zu produzieren. Diese Methode verkörperte den Geist der industriellen Massenproduktion und verwandelte Alltagsobjekte in Kunst: Standardisiert und für den Konsum inszeniert.

Warhols Dosenmalerei spiegelt die kulturelle Atmosphäre der 1960er Jahre wider, als Konsumgüter und Werbung das Leben der Amerikaner zu bestimmen begannen. Mit Darstellungen alltäglicher Objekte wie Coca-Cola-Flaschen und Suppendosen forderte Warhol uns auf, das Gewöhnliche neu zu sehen. Er verwischte die Grenzen zwischen High-Art und Low-Art, wobei die Kultur die Motive für die Pop Art lieferte.
2. Ein Jahrhundert im Raster: On Kawaras 100 Year Calendar
On Kawara präsentiert 100 Jahre auf einen Blick: Ein grafisches Raster, im Siebdruckverfahren auf großformatiges, handgeschöpftes japanisches Papier gedruckt, zeigt eine riesige Tabelle.


Sein One Hundred Years Calendar beginnt am 1. Januar 1901 und endet am 31. Dezember 2000. Vertikal ordnete er die 100 Jahre des 20. Jahrhunderts, jedes Jahr bildet eine Zeile. Die Zeitachse verläuft in der Mitte des Blattes. Horizontal listet der Kalender alle Tage eines Jahres von Januar bis Dezember in monatlichen Abschnitten. Schaltjahre und der Wochenrhythmus des 20. Jahrhunderts sind berücksichtigt, Sonntage markiert er mit einem kleinen Punkt. Da das Werk in New York entstand, verwendete On Kawara die englische Schreibweise der Monatsnamen.

On Kawara dokumentierte darin auch seinen Lebenslauf und sein tägliches Schaffen. Ab seinem Geburtstag, dem 24. Dezember 1932, ist jeder Tag seines Lebens mit einem gelben Punkt markiert. Das obere Drittel des Kalenders bleibt daher leer. Ab seinem ersten Date Painting vom 4. Januar 1966 kennzeichnet ein schwarzer Punkt die Tage, an denen ein Datumsbild entstand. Ein roter Punkt markiert die Tage, an denen er mehr als ein Datumsbild malte. Diese Datumsbilder aus dem Werkkomplex Today stellen die Zeit dar: Pro Tag malte er das Datum auf eine monochrome Leinwand in der Sprache und dem Format des jeweiligen Ortes. Die Bilder sind so präzise gemalt, dass sie wie gedruckt wirken. Wenn On Kawara die Bilder nicht bis Mitternacht vollendete, zerstörte er sie.
Der japanische Konzeptkünstler On Kawara (1933–2014) widmete sich in seiner minimalistischen Kunst der Dokumentation des Alltags und der Zeit. Mit 100 Year Calendar lädt er dazu ein, über den Fortschritt der Zeit nachzudenken und konfrontiert auch mit der Endlichkeit.
Mehr zur Darstellung der Zeit in der Kunst.
3. Sol LeWitt und die 100 Cubes: Farbvariationen als Konzeptkunst
Sol LeWitt ist berühmt für seine minimalistischen Skulpturen wie die Open Cubes von 1991, die im Frankfurter Bankenviertel im öffentlichen Raum stehen. Sieben weiß lackierte Aluminium-Vierkantrohre bilden Gittergerüste, die sich versetzt aneinanderreihen. Die offenen Würfel rahmen den Blick in die Umgebung.

Dem amerikanischen Konzeptkünstler diente das Gittergerüst als Grundeinheit vieler Werke: Er wiederholte, variierte und ordnete es nach bestimmten Regeln, um serielle Strukturen zu schaffen. Seine Arbeiten ordnen einfache geometrische Formen zu Serien. Er erzählt keine Geschichten mit seiner Kunst – es geht um das Verhältnis von Raum, Form, Farbe und Material.
Das Werk 100 Cubes ist eine Serie von Gemälden, die als Künstlerbuch erschien. Darin erkundet LeWitt in 100 Farbvariationen die immer gleiche Würfelansicht. Die Primärfarben Rot, Gelb und Blau bilden die Basis aller Kombinationen. Sol LeWitt malte sie in festgelegter Reihenfolge übereinander, wodurch unterschiedliche Farbnuancen und Schattierungen entstanden. Eine Arbeit, die dazu einlädt, über die Beziehung zwischen zwei- und dreidimensionaler Darstellung nachzudenken.

Ein zentraler Aspekt von LeWitts Kunst ist die Idee, dass das Konzept das eigentliche Kunstwerk darstellt. Andere führen es aus. Die 100 Cubes malte er jedoch selbst, was ihnen einen experimentellen Charakter verleiht. In seinen 1967 veröffentlichten Paragraphs on Conceptual Art legte LeWitt die Prinzipien seiner minimalistischen Konzeptkunst dar, er gilt als Pionier der Konzeptkunst und der Minimal Art.
Hier geht’s zur Kunst im öffentlichen Raum in Frankfurt.
4. 100 Parolen in Neon: Bruce Naumans Gegensätze in One Hundred Live and Die
Eine monumentale Neon-Installation von 1994 zeigt vier übereinander gestapelte Reihen mit je 25 Parolen. Jede Parole besteht aus drei Wörtern und endet mit LIVE oder DIE. Beispiele sind: CRY AND LIVE, LOVE AND DIE, SLEEP AND LIVE. Die Parolen leuchten abwechselnd in verschiedenen Neonfarben und ziehen durch ihren dynamischen Wechsel und die grelle Beleuchtung die Blicke an. Sie überfordern uns, wenn wir die existenziellen Botschaften schnell erfassen möchten.
Der amerikanische Konzeptkünstler Bruce Nauman (*1941) reflektiert über die Dualität des Lebens – Freude und Schmerz, Liebe und Verlust, die unvermeidlichen Gegensätze des Lebens. Nauman, der zunächst Mathematik und Physik studierte, bevor er zur Kunst wechselte, ist bekannt für seine konzeptionellen und interdisziplinären Arbeiten. Er erforscht die Absurditäten des Lebens und nutzt oft Neon, um Texte und Sätze mit Wortspielen oder provokativen Botschaften zu bilden . Die blinkenden Neonlichter erinnern an Werbung und verleihen dem Werk eine zugängliche, aber auch entfremdende Wirkung: Die grelle Ästhetik der Werbung steht im Gegensatz zu den tiefgründigen Lebensfragen, die das Werk stellt. Das irritiert.
5. Reflexion über Mensch und Natur: 100 Foot Line von Roxy Paine
Die Skulptur 100 Foot Line von Roxy Paine (*1966) aus dem Jahr 2010 zieht mit ihrer schieren Höhe den Blick nach oben. Mit 30 Metern (das entspricht 100 Fuß) ragt dieser monumentale und zugleich filigrane Edelstahlbaumstamm empor, ohne Äste oder Blätter. Seine sich verjüngende Form hebt sich klar und glänzend von der Landschaft ab und stellt das Konzept des „Natürlichen“ in Frage.

Der amerikanische Maler und Bildhauer Paine schuf den Stamm aus robusten Edelstahlrohren, die normalerweise in der Schwerindustrie benutzt werden. Präzise geschweißt, verbinden sich die Rohre zu einer Baumform, deren glatte, nahtlose Übergänge eine perfekte, fast surreale Linienführung erzeugen.
Der Werkstoff verbindet organische Form mit Technik. In dieser künstlichen Interpretation verschmilzt die natürliche Form mit industrieller Ästhetik. Paine hinterfragt, wie Natur und menschliche Eingriffe zusammenwirken.
Fazit
Die Zahl 100 steht als Konzept für universelle Themen wie Zeit, Raum, Konsum, Natur und menschliche Existenz. Nur wenige Kunstwerke tragen die 100 im Titel, und einige habe ich erst durch die Recherchen für meinen Artikel entdeckt. Ich mag es, Kunst aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und neue Erkenntnisse zu gewinnen.

Die Zahl 100 in der Kunst: Symbolik und Bedeutung – britta kadolsky
Das Titelbild zu diesem Artikel habe ich mit der Künstlichen Intelligenz DALLE produziert:

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