Im Innern des Papiers – Skulpturen von Angela Glajcar
britta kadolsky
Ein Tag mit Angela Glajcar
Mit einem leichten Ruck schiebt Angela Glajcar die nächste Bahn Papier über den Tisch. Einen Meter fünfzig lang, dick wie Karton, doch in ihren Händen wirkt sie plötzlich biegsam wie Stoff. Angela Glajcar steht auf dem Gerüst. Ich sitze auf einer Leiter direkt daneben – was ich sehe, ist wirklich unerwartet: Mit einem gezielten Riss durchtrennt sie den Bogen, ein raues, unregelmäßiges Geräusch. Der Riss ist kein Akt der Zerstörung, sondern der Geburt. Glajcar hebt das Papier hoch, mustert es, befindet es für passend und bindet es neben die anderen Papiere über ihr. Es ist dieser Moment, in dem sich zeigt, dass hier nicht einfach nur Papier bearbeitet wird. Hier entsteht Raum.

Ich durfte Angela Glajcar beim Aufbau einer ihrer Terforations begleiten. Hier, im Museum Pfalzgalerie Kaiserslautern – kurz mpk, installiert sie drei Tage lang eine ihrer monumentalen Papierskulpturen. Sie bekommt dafür einen eigenen Raum mit einer sogenannten Laterne – einem Turm mit Fenstern rundherum.

Glajcars riesige, scheinbar schwebende Gebilde sind mehrere Meter lang und dicht über- und hintereinander geschichtet. Die einzelnen Papierbögen hängen so weit auseinander, dass gerade noch Licht dazwischen scheint, aber auch so eng beieinander, dass das gesamte Gebilde wie eine organische Figur wirkt.
Am dritten Tag bin ich dabei und erlebe, wie die Installation aus Papier letztlich zu Architektur und Landschaft wird. Das gerissene Loch in der Mitte der ersten Papierbahn öffnet sich über die folgenden Papierbögen hinweg immer mehr, um schließlich zu einem großen Tor zu werden. Blätterspitzen krümmen sich keck und berühren die benachbarte Papierbahn. Die Sonne scheint durch die Oberlichter und taucht die eigentlich weißen Blätter in bräunlich-changierende Töne. Die unteren Blätter wirken grünlich, da sie von den kaltweißen Strahlern auf der Balustrade angeleuchtet werden.

Die Szenerie ist meditativ und gleichzeitig kraftvoll. Die Luft riecht nach Zellulose, überall liegen weiße Papierreste auf dem Boden. Und mittendrin arbeitet die Künstlerin fokussiert mit dem Material, das seit Jahrhunderten mit Wörtern beschrieben wird, und schafft dabei etwas radikal Neues: Raum statt Text, Gefühl statt Schrift.
Die Magie des Papierraums

Papier zählt zu den einflussreichsten Materialien der Menschheitsgeschichte: Leicht, biegsam und einfach herzustellen, hat es seit über 2.000 Jahren Wissen, Kunst und Verwaltung getragen – ein stiller Begleiter menschlicher Ideen. Seine materielle Empfindlichkeit steht im Gegensatz zu seiner kulturellen Bedeutung. Im digitalen Zeitalter bleibt Papier ein Symbol für Handgemachtes und das Beständige in einer schnelllebigen Zeit.
Papier ist in der Bildhauerei ein Außenseiter – schließlich ist es ein profanes Material. Wo andere hämmern, meißeln oder schweißen, reißt Angela Glajcar – und kreiert aus Zellulose und Licht Skulpturen von erstaunlicher Wucht und Leichtigkeit. Was einst Marmor, Holz oder Bronze war, ersetzt Glajcar durch Papier, federleicht, trotz der Monumentalität der Form. Das Material ist warm, anschmiegsam, gleichsam verletzlich.

Streng genommen ist es übrigens Karton: 400 Gramm pro Quadratmeter wiegen die Bögen für ihre Werkreihe Terforation – von Papier spricht man bei einem Flächengewicht von bis zu 200 Gramm pro Quadratmeter.
Je nach Ausstellungsort nutzt Glajcar unterschiedliche Papiere: Während es in Deutschland meistens Karton des Unternehmens Hahnemühle ist, das in besonders chaotischen Strukturen hergestellt wird – es lässt sich dann besser reißen – hat die Künstlerin in Korea mit dem Papier aus der Rinde des Maulbeerbaums – dem Hanji – gearbeitet. Das hat weniger als 100 Gramm pro Quadratmeter und verhält sich wie Stoff.
Vom Reißen zur Raumskulptur: Der Entstehungsprozess von Glajcars Papierinstallation
Bevor Angela Glajcar mit dem Aufbau beginnt, sieht sie sich den Ausstellungsraum genau an: Sie misst ihn aus, geht ihn ab, nimmt Licht, Höhe und Atmosphäre auf.
Im Atelier entsteht anschließend am Computer ein erstes Modell der Installation – im 3D-Programm entwickelt sie eine Vorstellung davon, wie das Werk später im Raum wirkt.

Dann erst nimmt sie die Papierbögen, reißt von Hand die Kanten und die Löcher. Der gezielte Riss im Papier ist das zentrale Ausdrucksmittel – es ist wenig Zufall im Spiel. Was Glajcar am Papier besonders liebt, ist das Reißen und Hängen, ein körperlicher, haptischer Prozess, der sie dem Material sehr nahebringt. Durch das Reißen mit der Hand entstehen sanfte Linien, Rhythmen und Perspektiven, die die Installationen lebendig wirken lassen.
Der weitere Arbeitsprozess findet vor Ort statt: Zunächst wird ein hohes Gerüst aufgebaut, danach bringt die Künstlerin die vorbereitete Träger-Konstruktion mit Dübeln und Drahtseilen an der Decke an. Erst dann beginnt sie, Papierbahn für Papierbahn an die Decke zu hängen. Die Installation wächst mit jedem Tag, wird dichter, größer, raumgreifender. Einige wenige Papiere werden durch gezieltes Zerreißen angepasst.

Diese langsame Entfaltung passt gut, sagt sie, denn ihre Arbeiten wirken wie etwas Organisches – fast wie ein lebender Körper. Und auch wenn vieles vorab entsteht: Wirklich fertig wird das Werk erst vor Ort. Der Raum entscheidet mit – die Arbeit entwickelt sich in situ. Der Raum im mpk ist durch zwei Türen betretbar und die Installation wirkt aus beiden Perspektiven sehr unterschiedlich: Überrascht blickt man automatisch nach oben und ‚fühlt‘ mit den Augen die Haptik des Papiers.
Die Künstlerin gibt ihren Arbeiten gerne poetische Titel. Ihre bekannteste Werkreihe Terforation (ein Wortspiel aus „terra“ und „perforation“) hat sie international bekannt gemacht.

Wer ist Angela Glajcar?
Angela Glajcar wurde 1970 in Mainz geboren. Nach einem Studium an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg bei dem Metall-Bildhauer Tim Scott begann sie, zunächst mit klassischen Bildhauermaterialien wie Stahl oder Holz zu arbeiten. Der Wechsel zum Papier kam nicht aus einer Laune heraus, sondern aus der Suche nach einem Medium, das ebenfalls plastische Wirkung entfaltet und einfach ‚anders‘ ist.
Seit Beginn der 2000er-Jahre hat sie sich ganz dem Papier verschrieben – und ist damit international erfolgreich. Ihre Arbeiten sind in Museen und Galerien auf der ganzen Welt zu sehen. Eines ihrer großformatigsten Werke befindet sich im Landesmuseum Wiesbaden – dort bin ich selbst zum ersten Mal ihrer Kunst begegnet. Ich war direkt begeistert. Auch die Galerie Maurer in Frankfurt stellt kleine Formate von Angela Glajcar aus.
Mehr als ein Rückblick: der Catalogue Raisonné
2024 erschien erstmals ein umfassender Catalogue Raisonné, der das bisherige Werk von Angela Glajcar dokumentiert. Herausgegeben hat ihn Sasa Hanten-Schmidt. Dieses Buch bietet weit mehr als eine Werkliste: Es wurde nachhaltig produziert – das Papier ist von einer Glajcars Arbeiten in Österreich übriggeblieben, und die gelungene ästhetische Gestaltung macht es selbst zu einem Kunstobjekt.
Wie spricht man eigentlich Glajcar aus?
Nicht ganz intuitiv, aber einfach: „Gleit-zar“.
Auf ihrer Website spricht sie den Namen selbst aus – eine freundliche Geste gegenüber einem Publikum, das oft unsicher ist.
Fazit
Angela Glajcar erschafft aus Papier monumentale Skulpturen, die zwischen Leichtigkeit und Wucht oszillieren. Ihre Werkreihe Terforation verwandelt den vermeintlich profanen Werkstoff in architektonische Gebilde von beinahe meditativer Wirkung. Statt zu meißeln, reißt sie – und schafft mit Zellulose, Licht und Luft neue Räume. In der Begegnung mit ihren Installationen wird klar: Papier kann mehr als Worte tragen und kann sogar zutiefst sinnlich wirken.


Der Tag hat viel Spaß gemacht:
Im Innern des Papiers – Skulpturen von Angela Glajcar – britta kadolsky

Hier gehts zum Artikel über Papierkunst in Berlin, wo ich im Haus des Papiers – neben vielen Papierarbeiten von anderen Künstler:innen – bereits eine kleine Terforation von Angela Glajcar bewundern konnte.
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