Martin Kippenberger - Ein Künstler, der Wettsaufen und Punkmusik liebte
britta kadolsky
Dies ist die Geschichte eines tragischen und viel zu kurzen Künstlerlebens: Martin Kippenberger trank, feierte und provozierte, als gäbe es kein Morgen. Der deutsche Maler, Bildhauer, Musiker einer Punkband und Selbstdarsteller gehörte zu den schillerndsten Figuren der Kunstszene der 1980er und 90er – nicht zuletzt, weil er diese und sich selbst immer wieder auf die Schippe nahm. 1997 starb er mit nur 44 Jahren an Leberkrebs.
Doch was machte Kippenberger als Künstler so einzigartig? An fünf Werkgruppen zeige ich, wie radikal und unberechenbar sein Schaffen war.
Paris Bar: Die Kultbar für Künstler in Berlin
Diese farbenfrohe und realistische Innenansicht der Paris Bar hängt ebenda in Berlin. Der schwarzweiß karierte Fliesenboden, die Bistrostühle, die weißen pyramidenförmigen Servietten und Tischdecken und die Bilder an der Wand verbreiten ein französisches Flair und verdoppeln sich im Gemälde.

Die Paris Bar war in den 1980er und 1990er Jahren ein legendärer Treffpunkt für Künstler und Prominente. Sie verbindet Restaurant, Galerie und Party-Ort und ist bekannt für ihre lockere Atmosphäre. Immer wieder beglichen Künstler hier ihre Rechnungen mit Kunstwerken . Konsequenterweise sind an den Wänden Werke namhafter Künstler in Petersburger Hängung zu sehen – wie auch auf Kippenbergers Kunstwerk.
Das Tauschen von Kunstwerken gegen Waren und Dienstleistungen hat eine lange Tradition. Künstler haben ihre Werke gegen Essen, Unterkunft oder andere Güter eingetauscht – entweder aus Not oder als kreative Gelegenheit, ihre Kunst zu verkaufen und neue Verbindungen zu schaffen.
1981 bot Martin Kippenberger dem Berliner Paris Bar-Besitzer Michel Würthle eine Serie von Schwarz-Weiß-Gemälden an, die er in Italien gemalt hatte. Da sich die Werke vorher nicht verkauft hatten, suchte Kippenberger eine alternative Möglichkeit, sie loszuwerden. Im Gegenzug für die Gemälde erhielt er das Versprechen, ein Leben lang in der Paris Bar essen und trinken zu können – stets in Gesellschaft.
1992 beauftragte Kippenberger eine Werbeplakatfirma für 1.000 DM mit dem Gemälde Paris Bar. DerKinoplakatmaler Götz Valien malte die erste Version, basierend auf einer Fotovorlage. Ein Jahr später entstand eine zweite Version, die Kippenberger für 2.000 DM ebenfalls bei Valien in Auftrag gab. Jetzt war das erste Gemälde als Bild-im-Bild in der Paris Bar zu sehen: Eine Verstärkung des Trompe-l’œil-Effektes.

Das erste Bild musste Würthle irgendwann verkaufen – die Paris Bar steckte in finanziellen Nöten. Später wurde es bei einer Auktion in London für 2,3 Mio. Pfund versteigert. Die zweite Version hing in der Paris Bar, bis auch sie verkauft wurde. Das Bild befindet sich heute in Francois Pinaults Sammlung in der Bourse de Commerce in Paris.
Die aufsehenerregenden Preise animierten Götz Valien zu einer Klage: Er wollte als Miturheber des Bildes genannt werden. Das Landgericht München gab dem ausführenden Maler Recht, da er bei der Umsetzung einen eigenen kreativen Spielraum hatte. Götz Valien malte – mit leichten Änderungen – auch noch eine dritte Version, die allerdings angeblich bei ihm im Atelier hängt. (Über die Urheberrechte wird derzeit noch gestritten.) Die Version, die heute in der Paris Bar zu sehen ist, soll von Daniel Richter sein – einem deutschen Maler, dessen farbintensive, expressive Werke abstrakte und figurative Elemente verbinden.
Die Idee, seine Gemälde malen zu lassen, kam Kippenberger bereits 1981: Seine Werkreihe Lieber Maler, male mir umfasst zwölf großformatige Bilder, die nach Kippenbergers Fotos von alltäglichen Szenen und Werbemotiven von einem Plakatmaler angefertigt wurden. Kippenberger hinterfragte die traditionelle Vorstellung des Künstlers als Handwerker und spielte ironisch mit den Erwartungen an Originalität – ganz wie Andy Warhol in seiner factory. Konzeptuell setzte er sich mit Autorschaft und Kunstproduktion auseinander. Der Titel unterstreicht, dass Kippenberger die Werke in Auftrag gab – eine bewusste Provokation gegenüber dem Kunstmarkt.
Selbstbildnisse: Künstlergenie und Ironie als Konzept
Kippenbergers Serie von Selbstbildnissen ist 1988 in Spanien entstanden. Die großformatigen Malereien zeigen den vollbärtigen Künstler fast nackt, in übergroßer (meist) weißer Unterhose, die weit über seinen dicken Bauch hochgezogen ist. Er wirkt aufgedunsen und gezeichnet von den Spuren seines exzessiven Lebens.

Die Werke beziehen sich auf David Douglas Duncans ikonisches Foto von Pablo Picasso 1962 vor dessen Haus in Süd-Frankreich. Der über 80-jährige Künstler steht in stolzer Pose und ist nur mit einer weißen Feinripp-Unterhose bekleidet, die er bis zum Bauchnabel hochgezogen hat. Seinen Windhund an der Leine haltend blickt er weltmännisch in die Ferne.

links: Sammlung Gabriele Dziuba, rechts: Sammlung Taschen
Picasso als Rollenmodell: Kippenberger identifizierte sich einerseits mit dem Topos des Künstlergenies, das er immer gerne sein wollte und das Picasso zweifelsfrei war. Andererseits transportieren Kippenbergers Selbstbildnisse jedoch nicht Picassos potente Männlichkeit und Virilität. Im Gegenteil: Kippenberger stellt sich auf allen Gemälden höchst ironisch als körperlich degeneriert, ungelenk, zuweilen melancholisch dar, dokumentiert mit übergroßer Feinripp-Unterhose seinen eigenen Verfall und gibt sich mit der persiflierten Darstellung seines vom Alkohol aufgeschwemmten Körpers der Lächerlichkeit. Der Künstler als Antiheld.

Auf allen Selbstbildnissen dieser Serie sind Ballons in unterschiedlichen Größen, Anzahl und Farben zu erkennen. Sie könnten als Echo auf die aus dem Leim gegangene Figur des Künstlers gesehen werden. Die Ballons könnten auch ein Zitat sein aus dem Kinderbuch, das er zur Geburt seines Kindes gestaltete – oder sie symbolisieren jene Abgehobenheit, die Kippenberger der Avantgarde vorwarf.
Frosch am Kreuz: Kippenbergers ironisches Selbstporträt in fünf Farben
Die Skulptur Zuerst die Füße entstand 1990. Ein farbiger Frosch hängt gekreuzigt an einem Kreuz. Die leidende Witzfigur gibt es in fünf Farben: Gold, Silber, Blau, Pink und Grün. Mal hält der Frosch ein Handtäschchen, mal einen Bierkrug – manchmal klebt auch noch ein Spiegelei irgendwo am Körper. Seine Zunge hängt aus dem Maul – wie bei einer Comicfigur, die fix und fertig wirken soll. Die Augen auf seinem Kopf stehen so schief, dass er schielt. Der Frosch trägt einen Lendenschurz und Hosenträger: Das alles lässt ihn menschlich aussehen.

Kippenberger, der in den 1980er Jahren einige Wochen Alkoholfasten in Tirol machte, ließ die Skulpturen dort von einem einheimischen Holzbildhauer erstellen, der normalerweise christlich-religiöse Schnitzereien anfertigte. Entkräftet und erschöpft wie sein Frosch fühlte sich Kippenberger nach dieser Kur – und so ist die Skulptur mit ihren Anklängen an den toten Christus auch ein ironisches Selbstporträt.
Bei einer Ausstellung in Bozen 2008 löste die Skulptur einen Skandal aus: Konservative und Katholiken erhoben lautstark ihre Kritik – ein Politiker trat sogar in den Hungersstreik. Auch Papst Benedikt XVI kritisierte das Kunstwerk. Das Museum weigerte sich jedoch, Kippenbergers Skulptur zu entfernen. Dieser Eklat hätte Kippenberger, der schon 11 Jahre tot war, sicherlich gefreut.
Betrunkenes Rotlicht: Kippenbergers verbogene Laterne
Martin Kippenberger setzte seine absurden Laternen vielseitig in Szene – mal als eigenständiges Kunstwerk, mal als Teil einer Installation.

- Eine seiner ersten ist die Laterne an Betrunkene von 1986. Die Stange der Laterne ist nicht stabil, solide und gerade nach oben verlaufend, nein: Ihre gebogene Form lässt sie beweglich und instabil wirken – so wie Betrunkene eben.
- Die betrunkene Straßenlaterne, die heute in Paris in der Pinault-Collection in der ehemaligen Börse zu sehen ist, schlängelt sich in kleinen Bögen die Ausstellungswand empor, in der sie immer wieder zu verschwinden scheint.
- Auf der documenta IX 1992 ist der goldene Laternenmast in der Mitte um 360 Grad gebogen und führt wieder nach unten, so dass die Glühbirne kurz über dem Boden brennt.

Wofür steht die Laterne? Sie ist sowohl symbolisch als auch künstlerisch aufgeladen: Sie rückt manche Realitäten ins Licht und lässt andere im Dunkeln. Sie symbolisiert Orientierung, Wärme, ist aber auch eine Metapher für Einsamkeit. Mit dem Einzug der Moderne veränderte sie das Verhältnis der Menschen zur Nacht: ein bohemienhaftes Nachtleben entstand, in das Künstler und Literaten abtauchten. Die immer rote Glühbirne in Kippenbergers Laternen verweist zudem auf die so genannten Rotlichtviertel. Die ins Absurde verformte Laterne lassen sich ebenfalls als Selbstbildnis deuten.
Metro-Net: Illusion eines globalen U-Bahn-Systems
Kippenberger entwarf mit Metro-Net ein weltweites U-Bahn-System – aber ohne Schienen und Züge. Stattdessen gab es nur Attrappen von Eingängen und Lüftungsschächten. Fahrgeräusche und Luftströme durch Ventilatoren verstärkten die Illusion. 1993 baute er die erste Station auf der griechischen Insel Syros: ein Treppenabgang aus Beton mit einem verschlossenen Gitter-Eingang. Weitere Stationen folgten: 1995 in Dawson, Kanada, und 1997 auf der Leipziger Messe. Aufgrund seines frühen Todes 1997 konnte Metro-Netnur in Ansätzen realisiert werden.

Auch nach seinem Tod tauchten Kippenbergers Metro-Stationen an überraschenden Orten auf: Ein transportabler U-Bahn-Eingang stand plötzlich in den Schweizer Alpen. Seine Metro-Net-Stationen sorgten bei der documenta X in Kassel und den Skulptur.Projekten in Münster für Aufsehen. 2003 war Ventilation ShaftTeil der METRO-Net World Connection auf der Venedig Biennale. Der sieben Meter lange Lüftungsschacht unterhalb der Giardini erweckte den Eindruck, das fiktive U-Bahn-Netz sei tatsächlich real und global – und blies jede Menge Luft nach oben in den Ausstellungsraum des Deutschen Pavillons.

Kippenbergers Metro-Net lebt von der Vorstellungskraft. Mit den Mitteln der Kunst schuf der Künstler ein U-Bahn-Netz für Reisen im unendlichen Raum der Imagination. Fehlt die geistige Bereitschaft, sich Tunnel und fahrende U-Bahnen vorzustellen, bleibt das Projekt ein unsinniges Bauwerk, und wir sehen Skulpturen ohne Funktion.
Wortwitz, Spott und Provokation: Kippenbergers geniale Werktitel
Kippenbergers Kunst lebt nicht nur von inhaltlicher Provokation, sondern auch von einem scharfsinnigen Humor, der sich bereits in seinen absurden und pointierten Werktiteln zeigt. So zeigt etwa Sympathische Kommunistin die politische Ironie, während Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz entdecken mit Erwartungshaltungen spielt und jede:r sofort beginnt, genau jenes faschistische Symbol im Bild zu suchen. Titel wie Ich geh jetzt in den Birkenwald, denn meine Pillen wirken bald bringen eine skurrile Poesie ins Spiel, die zwischen Melancholie und Witz oszilliert. Auch Alkoholfolter steht exemplarisch für Kippenbergers feines Gespür, Sprache in unerwartete Zusammenhänge zu setzen. Seine Titel sind dabei oft so einprägsam, dass sie schon für sich allein als Kunstwerke funktionieren.

Fazit
Martin Kippenbergers Werk war ebenso exzessiv wie sein Leben. Der Anarchist mit Drang zur Selbstinszenierung und -zerstörung gab sich Mühe, NICHT zu gefallen. Scheinbar unbekümmert und sehr respektlos bezog er sich auf den Alltag der BRD und auf die Kunstgeschichte. Sein Œuvre ist riesig, denn er produzierte Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen und Installationen in großer Anzahl. Als rastloser Tausendsassa war er außerdem Teilhaber einer Kneipe und Gründer von Kippenbergers Büro, einer Art Denkfabrik nach dem Vorbild von Warhols factory.
Die Feuilletons und die Museen mochten ihn lange nicht, doch nach seinem frühen Tod 1997 wuchs der Hype um ihn – vor allem auf dem Kunstmarkt, wo seine Werke heute Höchstpreise erzielen. Ist er doch ein Künstlergenie?

Martin Kippenberger – Ein Künstler, der Wettsaufen und Punkmusik liebte – britta kadolsky
Noch mehr politische Kunst gibt es hier: Hans Haake – Politische Kunst mit Tiefgang
Oder auch bei: Käthe Kollwitz
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