Zeitgenössische Selbstporträts und ihre verschleierten Botschaften
britta kadolsky
Facetten des Selbst: Ein Blick auf fünf einzigartige Selbstporträts in der zeitgenössischen Kunst
Selbstporträts haben eine lange Tradition in der Kunstgeschichte. Künstler wie Rembrandt, Van Gogh und Frida Kahlo schufen berühmte Selbstporträts, die sowohl ihr äußeres Erscheinungsbild als auch ihre innere Welt einfangen. In der Regel soll das Selbstporträt das eigene Konterfei für die Nachwelt erhalten. Dank dieser Werke sind uns einige Künstler:innen auch mit ihrer Physiognomie erhalten geblieben. Außerdem bieten die Bilder Einblicke in ihr Leben, ihre Mode und zuweilen auch in ihren Geisteszustand.
Selbstporträts enthalten oft symbolische Elemente oder Gegenstände, die etwas über die Persönlichkeit oder das Leben des Künstlers aussagen. Diese sollen bestimmte Botschaften vermitteln. In der zeitgenössischen Kunst wird die Darstellung des eigenen Konterfeis immer öfter komplett durch symbolische Stellvertreter ersetzt. Wie, das zeigen die folgenden fünf Beispiele.
1. Tracey Emin, My Bed, 1998

Tracey Emins (*1963) Werk „My Bed“ zeigt ein unordentliches Bett, umgeben von leeren Wodkaflaschen, Hausschuhen, Unterwäsche mit Menstruationsblut, zerdrückten Zigarettenpackungen, einer ausgeblasenen Kerze, Kondomen, einem Kuscheltier und mehreren Polaroid-Selbstporträts. Emin stellt ihr Bett so dar, wie es aussah, als sie vier Tage lang im Bett lag und nur Alkohol trank. Zu dieser Zeit litt sie an einer selbstmörderischen Depression, ausgelöst durch Beziehungsprobleme. Als sie das Chaos in ihrem Zimmer sah, kam ihr die Idee für das Kunstwerk. Kritiker bezeichneten das Werk als Farce und behaupteten, jeder könne ein ungemachtes Bett ausstellen. Emin soll entgegnet haben: „Nun, das haben sie nicht, oder? Das hat noch nie jemand gemacht. “
Mit schonungsloser Ehrlichkeit zeigt Emin intime und persönliche Themen in ihrer Kunst. Ihr autobiographisches Kunstwerk erregte mediales Aufsehen. Emin hat öffentlich über ihre schwierige Kindheit, ihre Beziehungen und ihre Gesundheitserfahrungen gesprochen, und ihre Arbeit spiegelt diese persönlichen Erfahrungen wider. Sie ist bekannt für ihre ehrliche und provokante Darstellung von Themen wie Sexualität, Trauma, Einsamkeit und Verletzlichkeit.
2. Alicja Kwade, Selbstporträt, 2021

Auf der Leinwand sind 24 kleine Glas-Fläschchen – mit den essentiellen Elementen des menschlichen Körpers im Kreis angebracht: Sauerstoff, Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Kalzium, Phosphor, Kalium, Schwefel, Natrium, Chlor, Magnesium, Eisen, Fluor, Zink, Silizium, Brom, Kupfer, Selen, Mangan, Jod, Nickel, Molybdän, Chrom, Kobalt.
Damit ist Alicja Kwades (*1979) Werk eigentlich das Gegenteil eines Selbstporträts: Es ist ein Porträt von – allen. Anfang der 1950er Jahre entdeckten Wissenschaftler die Struktur der DNA, die Doppelhelix. Eine Entdeckung, die die Menschheit in einen radikalen Abstraktionsprozess stürzte: Die Information über uns selbst ist in uns als abstraktes Ornament gespeichert, als technisch raffinierter, gestapelter Code. Die DNA gehört als Informationskette zu einem einzigen Individuum – stimmt jedoch zu 99,9% bei allen Menschen überein. Die Arbeit wirft interessante Fragen auf: Was bedeutet ein Selbstporträt? Wie können wir unsere Identität auf eine greifbare Art und Weise darstellen?
Alicja Kwade, eine deutsche Künstlerin polnischer Herkunft, ist vor allem als Bildhauerin und Installationskünstlerin bekannt. Mittlerweile zählt sie zu den erfolgreichsten deutschen Künstler:innen. Für ihre oft raumgreifenden Arbeiten braucht es einen immensen Logistikapparat.
Ein weiteres Selbstporträt und viele spannende Kunstwerke von Alicja Kwade habe ich hier beschrieben.
3. Dieter Roth, Selbstbildnis als Löwe, 1969

Es ist unklar, aus welchem Material diese Skulptur besteht: Ist sie aus Stein, Holz oder Terrakotta? Eine umlaufende Naht zeigt, dass sie gegossen wurde – und zwar aus Schokolade! Nur der Titel verrät, dass es sich bei dem vierbeinigen Wesen mit einem überdimensionalen Kopf um einen Löwen handelt. Schokolade ist sehr positiv besetzt, mir läuft direkt das Wasser im Mund zusammen – als Material für eine Skulptur ist es jedoch eigentlich unbrauchbar. Über die Jahre hinweg haben Bohrlöcher von Maden und weißer Belag namens Fettreif das Material grundlegend verändert. Dadurch wird klar: Dieter Roth (1930 – 98) hat sein „Selbstbildnis als Löwe“ nicht für die Ewigkeit gemacht, sondern den Prozess der Veränderung, der in Auflösung endet, bewusst hingenommen. Ein Widerspruch zum eigentlichen Ziel dieses Kunstgenres: : das Abbild des Dargestellten für die Nachwelt zu bewahren.
Der schweizerische Künstler Dieter Roth ist bekannt für seine Skulpturen mit ungewöhnlichen Materialien. Er experimentierte mit Lebensmitteln, wodurch seine Werke oft einem natürlichen Verfallsprozess unterliegen. Häufig sind seine Arbeiten humorvoll und ironisch und knüpfen an dadaistische Prinzipien an.
4. Maria Lassnig: Selbstporträt mit Affen (Geliebte Vorväter), 2001

Maria Lassnig (1919 – 2014) zeigt sich schonungslos als alte Frau, ausgemergelt, nackt und mit knochigen Schultern und eingefallenen Wangen. Sie blickt uns fragend an, während sich der Affe auf ihrem Schoß die Haare rauft. In der Kunstgeschichte hat der Affe viele Bedeutungen: Er steht für Eitelkeit und Narrheit in der Renaissance und dem Barock, aber auch für Exotik und Fremdartigkeit. Im 19. und 20. Jahrhundert, insbesondere in der Zeit nach Darwins Evolutionstheorie, wurde der Affe ein Symbol für wissenschaftliche Erkenntnisse und für die Verbindung zwischen Mensch und Tier. Das Werk gehört zu einer Reihe von Bildern, auf denen Lassnig sich mit Tieren darstellt. Sie porträtiert sich aber beispielsweise auch als Zitrone oder Marmeladenglas. In Lassnigs Selbstbildnis wird der Affe zu ihrem Alter Ego und spiegelt innere Vorgänge wider. Lassnig wendet sich bewusst gegen die Techniken der Reproduktion und malt sich nicht fotorealistisch. Damit ermächtigt sie sich selbst des eigenen Körpers und kontrolliert dass Abbilder von ihr, ihrem Gefühl und nicht einer normierten Schönheit entsprechen.
Maria Lassnig war eine bedeutende österreichische Künstlerin, die vor allem für ihre Körperbewusstseinsbilder bekannt ist. In ihren Werken stellte sie oft ihre Empfindungen und Körpererfahrungen dar, wodurch sie eine einzigartige Bildsprache entwickelte. Lassnig war eine Pionierin des feministischen Kunstverständnisses. Sie teilt das Schicksal vieler Künstlerinnen: Auch sie wurde erst im hohen Alter entdeckt und mit ihrer Kunst bekannt. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Goldenen Löwen der Biennale in Venedig im Jahr 2013.
5. Erwin Wurm, Selbstporträt als Essiggurkerl, 2008

Erwin Wurms (*1954) Selbstporträt besteht aus täuschend echt aussehende Gurken in verschiedenen Größen. Für den österreichischen Künstler sind Gurken auch mit Kindheitserinnerungen verbunden, da er sie oft und gerne aß.
2008 diskutierte das EU-Parlament über die Abschaffung einer „Verordnung zur Festsetzung von Qualitätsnormen für Gurken“, die vorschrieb, wie gekrümmt Gurken sein dürfen. Diese Gurkenverordnung galt als Symbol für die übermäßige Bürokratie der EU. Im selben Jahr schuf Wurm seine Skulptur „Selbstporträt als Essiggurkerl“. Zufall oder typisch für Wurm?
Mit seinen „One Minute Sculptures“, bei denen die Betrachter für eine Minute selbst Teil der Kunstwerke werden, gelang ihm der internationale Durchbruch. Und was bedeutet eine Gurke? Wenn eine Frau plötzlich Heißhunger auf Gurken bekommt, gilt das als sicheres Zeichen einer Schwangerschaft. Gurken sind ein wichtiger Bestandteil der süddeutschen Küche: In Schwaben gibt es das Vesper, in Bayern die Brotzeit und in Österreich die Jause. Zu jeder guten Jause gehören Essiggurkerl! „Sauer macht lustig“, heißt es, und „Humor ist eine Waffe“, sagt Wurm. Wurms Selbstporträt zeigt einen skeptischen Künstler, der Humor, Witz und Ironie als künstlerische Strategie nutzt. Seit 2009 dürfen echte Gurken in der EU wieder wachsen, wie sie wollen, unabhängig von ihrem Krümmungsgrad.
Fazit
Tracey Emin, Alicja Kwade, Maria Lassnig, Dieter Roth und Erwin Wurm setzen sich auf ganz unterschiedliche Weise mit dem Genre Selbstporträt bzw. der Darstellung ihrer eigenen Person auseinander. Sie verzichten auf die Abbildung des eigenen Konterfeis und sind doch alle sehr persönlich und autobiografisch. Sind das Wunschbilder? Möchten sie das eigene Bild auf diese Weise für die Nachwelt prägen? Zumindest haben die Künstler:innen sich und ihre Umgebung so wahrgenommen und porträtieren damit nicht nur sich selbst, sondern auch die Zeit, in der sie leben.
Zeitgenössische Selbstporträts und ihre verschleierten Botschaften – britta kadolsky
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