Maurizio Cattelan: Italiens Skandalkünstler
Britta Kadolsky
Wie Maurizio Cattelan die Kunstwelt schockiert
Ob es eine goldene Toilette oder ein niedergestreckter Papst ist – Maurizio Cattelan versteht es wie kein anderer, mit seinen drastischen Installationen die Grenzen der Kunst zu sprengen und kontroverse Diskussionen auszulösen. Das finde ich spannend! Grund genug , mir den italienischen Künstler genauer anzuschauen:
Maurizio Cattelan wurde 1960 in Padua geboren. Mit einem Mix aus Skandal, Satire und subversivem Humor hat er eine einzigartige Nische in der Kunstwelt geschaffen. Und Kunstkritiker:innen fragen sich immer wieder ob Cattelan das Publikum gezielt vor den Kopf stoßen will, ob verrückt oder gar genial.
Werfen wir einen genaueren Blick auf einige seiner Werke.
La Nona Ora (1999)
La Nona Ora – die Neunte Stunde – zeigt Papst Johannes Paul II. lebensgroß, niedergeschlagen von einem Meteoriten: Leblos liegt er auf einem roten Teppich. Das war 1999, und Johannes Paul II lebte noch: Ein Skandal!
Die Figur sieht sehr realistisch aus und erinnert an die Figuren aus Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett – mit dem Unterschied, dass der Papst dort natürlich nicht erschlagen auf dem Boden liegend dargestellt worden wäre. Besonders in Polen, dem Heimatland des Papstes – der mit bürgerlichen Namen Karol Wojtyla hieß -, erregte das provozierende Werk während einer Ausstellung großes Aufsehen: Zwei polnische Parlamentarier versuchten, den Meteoriten vom Papst zu entfernen – dabei brach ein Bein ab. Die Museumsdirektorin, die für die Ausstellung verantwortlich war, wurde gefeuert.
Der künstlerische „Anschlag“ auf den Papst empörte vor allem viele gläubige Katholiken. Ein Missverständnis, laut Cattelan: Für ihn symbolisiert das Werk einen Gottesdiener, der unter den Sünden der Welt extrem leidet und dennoch tapfer das Kreuz umklammert hält. Er sei nicht tot, sondern versuche mit letzter Kraft ,an das Gute zu glauben und zu hoffen.
Der Titel bezieht sich übrigens auf das Evangelium: In der „neunten Stunde“ der Kreuzigung fühlte sich Jesus von Gott verlassen.
Trotz – bzw. wahrscheinlich gerade wegen – der Kontroversen kaufte der französische Sammler François Pinault „La Nona Ora“ für 3 Millionen Dollar. In der Punta della Dogana in Venedig – seinem Museum für zeitgenössische Kunst– ist Cattelans Papst oft ausgestellt.
HIM (2001)
HIM ist ebenfalls eine hyperrealistische Skulptur. Sie stellt Adolf Hitler dar: Ein visueller Schock. Von hinten sieht man zunächst nur ein kniendes, betendes Kind, doch beim Umgehen der Skulptur erkennt man Hitler.
Kritiker warfen Cattelan vor, die Gräueltaten Hitlers zu verharmlosen, während andere die tiefgründige Auseinandersetzung mit Schuld und Sühne betonten. Besonders provokant war die Ausstellung von HIM 2012 im ehemaligen jüdischen Ghetto in Warschau. Der Ort verstärkte die Wirkung des Werks und führte bei manchen Betrachtenden zu extremer Entrüstung. Ich vermute, dass HIM in Deutschland niemals ausgestellt werden würde und könnte.
Cattelan fertigt von vielen seiner Werke übrigens drei Fassungen an: Die drei HIM-Skulpturen befinden sich alle in der Hand von jüdischen Sammlern.
L.O.V.E. (2010)
Die Skulptur L.O.V.E. steht in Mailand: Eine Hand mit ausgestrecktem Mittelfinger zeigt dem davor liegenden Gebäude, der italienischen Börse, den Stinkefinger. Die Hand steht auf einem monumentalen elf Meter hohem Sockel und alle anderen Finger sind abgebrochen. Die 4,60 Meter hohe Skulptur ist aus Carrara-Marmor: Dem selben Material, aus dem auch Michelangelo seinen David erschuf.
Das Akronym L.O.V.E. steht für Libertà, Odio, Vendetta, Eternità (Freiheit, Hass, Rache, Ewigkeit) – und hat also nichts mit Liebe zu tun. Cattelan karikiert den sogenannten römischen Gruß, den Mussolini für seinen Personenkult nutzte und aus dem sich auch der Hitlergruß entwickelte. Die Börse befindet sich im Palazzo Mezzanotte mit deutlich faschistischen Architekturmerkmalen. Zugleich lässt sich das Werk auch als Kritik am Kapitalismus lesen.
Trotz Kritik und der Bemühungen einiger Politiker, die Skulptur zu entfernen, ist L.O.V.E. ein fester Bestandteil des Stadtbildes geworden. Die Mailänder haben sich an die Präsenz des gigantischen Stinkefingers gewöhnt, und nennen sie nur „Il Dito“ – der Finger.
America (2016)
Das goldene Klo – America – ist eine funktionstüchtige Toilette aus 18-karätigem Gold. Dieses edle WC war im Guggenheim-Museum in New York installiert und durfte benutzt werden: Es bildeten sich lange Schlangen von Neugierigen, die auf dem goldenen Klo pieseln wollten.
Vermutlich kommentierte Cattelan mit America den exzessiven Reichtum, die Ungleichheit in der modernen Gesellschaft und auch den Kunstmarkt. Im Jahr 2019 wurde die Toilette während einer Ausstellung in England gestohlen und ist bis heute nicht mehr aufgetaucht: Vermutlich haben die Diebe die Toilette eingeschmolzen. Das Kunstwerk von Cattelan ist also unwiederbringlich verloren – wie auch das nächste.
Comedian (2019)
Eine frische Banane, die mit einem Stück grauem Gaffa-Band an die weiße Wand geklebt wurde: Das ist das Kunstwerk Comedian – ein Readymade. Zuerst ausgestellt wurde das Werk auf der Art Basel in Miami und verkaufte sich direkt für ca. 120.000 Euro.
Während einer Ausstellung in Seoul verspeiste ein südkoreanischer Student die Banane und hängte die Schale wieder an die Wand. Hunger? Eher Performance-Kunst! Und im November 2024 wurde die Banane bei Sotheby’s in New York für 6,2 Millionen US-Daollar versteigert. So viel war einem Käufer die Idee, die hinter der Banane steckt, wert.
Die Banane ist seit Andy Warhols Cover für die Debüt-LP von The Velvet Underground als künstlerisches Motiv anerkannt. Cattelans Werk löste eine intensive Debatte über den Wert und die Definition von Kunst aus. Cattelan fand es übrigens nicht schlimm, dass seine Banane gegessen wurde – alle paar Tage wird die Frucht während einer Ausstellung sowieso erneuert, und der Käufer erwirbt lediglich ein Zertifikat an der Arbeit. Mit einer handelsüblichen Banane und einem Tape kann das Werk dann ‚aufgehängt‘ werden.
Teilnahme an der Biennale in Venedig (2024)
Der Vatikan ist dieses Jahr mit seinem Pavillon im Frauengefängnis auf der Insel Giudecca: Das allein ist schon sehr ungewöhnlich. Aber dass der Skandalkünstler Cattelan einer der vertretenen Künstler ist, das ist verrückt.
Das Mural, das Cattelan an die Außenfassade malen ließ, ist berührend schön, und ich rätsle, was die eindrücklich gemalten Füße an der Gefängnismauer bedeuten sollen. Mich erinnert das Bild an die Beweinung Christi von Andrea Mantegna (um 1480). Dieses Bild war wegen seiner krassen perspektivischen Verkürzung damals einzigartig.
Und während ich an Fußsohlen denke, überlege ich, wo der zu Füßen gehörige Körper denn liegen müsste: Quasi im Frauengefängnis bei den ‚Sünderinnen‘. Seine Botschaft könnte lauten: Vergebung und bindungslose Liebe, unabhängig von der Vergangenheit eines Menschen – Schön!
Fazit
Maurizio Cattelan bleibt eine faszinierende Figur in der zeitgenössischen Kunstszene. Er überschreitet Grenzen – immer wieder – und schockiert damit bewusst. Und das, obwohl wir doch bereits alles schon gesehen haben und entsprechend abgebrüht sind. Er ist ein Störenfried der zeitgenössischen Kunst, der auch den Kunstbetrieb immer wieder hinterfragt und kritisiert.
Ich finde Cattelan genial, wirklich witzig und kritisch und manchmal zu platt. Einige Kunstwerke setzen eher auf Schockeffekte als auf substanzielle Aussagen, aber es bleibt unbestreitbar, dass seine Arbeiten eine breite Öffentlichkeit anziehen und starke Reaktionen hervorrufen: Ein Zeichen für die Wirkungskraft seiner Kunst.
Im Jahr 2011 kündigte Cattelan seinen Rückzug aus der Kunstwelt an, kehrte jedoch mit neuen Projekten und Ausstellungen zurück. Sein „Ruhestand“ scheint eher eine weitere ironische Geste in seinem unkonventionellen Schaffen zu sein.
Maurizio Cattelan: Italiens Skandalkünstler – britta kadolsky
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